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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Ich sehe mich bei ihr in der Hütte stehen, der Wein fliegt und klatscht an die Wand, das Glas fällt zu Boden. Ich sehe, wie ich Inez packe und sie anschreie und hinausrenne in den Regen. Aber so oft ich mir auch vorzustellen versuche, wie ich in dieser Nacht auf die Klippen gelangt bin, jedesmal verschwinde ich im Dunkel. Wenn ich versuche, mir selbst auf die Klippen zu folgen, ist da nichts. Als wäre das Bewusstsein unter Schock nur ein schwarzweißes Geflacker, durchdrungen vom Instinkt. Der Instinkt hatte mich getrieben.
    Ich stand da, sechzig Meter über dem Meer, und der Wind drückte mir den Atem zurück in die Lunge. Der Wind war eisig, und ich starrte hinab, angezogen vom Sog der Tiefe, der mich bis dicht an die Kante trieb, vom Echo der Vögel, die längst nicht mehr schrien, aber sie schrien in meinem Kopf, und nur der Aufwind schien mich noch zu halten.
    Ich war reich. Ein Reichtum, der nicht leicht zu erklären ist und der sich auch erst im Laufe der Zeit vom Gefühl zum Gedanken entwickelt hat. Dort oben spürte ich, dass alles möglich geworden war. Ich war grenzenlos und leicht. Ein einziger Schritt trennte mich vom Abgrund, trennte mich noch davon, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel und mich der Anziehungskraft der Leere für einen kurzen, berauschenden Moment hinzugeben, damit dieser Reichtum in mir für immer in der Kälte der Nacht aufgehoben sein würde.
    Ich öffnete meine Hose und pisste in die Nacht.
    Pisste in hohem Bogen die Klippen runter.
     
    In meinem Zimmer lag der Rucksack gepackt auf dem Bett. Über dem Stuhl hing meine Cargohose. Alles war vorbereitet. Morgen hatte ich abfahren wollen.
    Bye bye
und
fuck u!
    In meinem Kopf schien eiskaltes Wasser hin- und herzuschwappen. Die Haare klebten mir im Gesicht. Ich zog mich aus. Ich trocknete mich ab, ich nahm ein zweites Handtuch vom Haken und legte es mir vorsichtig über den Kopf. Jede Bewegung ließ das Wasser schwappen, also bewegte ich mich nicht, tastete mich zum Bett, wollte unter die Decke kriechen, mich zusammenrollen und schlafen, bloß nicht denken, schlafen bis zum Morgen, wenn die Fähre fuhr.
    Ich hatte vorgehabt, auf direktem Weg nach Hause zu fahren, die Chucks und meine Sommerklamotten in die Kleidersammlung zu geben, mir einen neuen Anzug kaufen und ein paar Hemden, mich endlich an der Uni einzuschreiben und meiner Mutter nichts von dem zu erzählen, was auf dieser Insel passiert war. Ihr nicht und sonst keinem.
    Aber ich sah Inez mit dem Weinglas vor mir, Inez im grasgrünen Tanktop, Inez auf den Stufen des Palazzo, ich stellte mir vor, wie sie in diesem Augenblick mit dem Eyeliner vor dem Spiegel stand, wie sie ihr Gesicht prüfte und auf mich wartete, und legte mich nicht ins Bett. Ich zog die Cargohose an und ein Polo-Shirt, das einzige, was sauber und trocken war, und machte mich zum zweiten Mal in dieser Nacht auf den Weg zu ihr.
    Sie saß am Ende des Sofas. Sie saß reglos da, und ich merkte, dass ich immer noch fror. Meine Hände waren kalt vom schneidenden Wind. Ich schloss die Tür und ging hinüber zu ihr. Die rote Stehlampe brannte. Das leere Weinglas stand vor ihr auf dem Tisch. Ich setzte mich neben sie. Ich legte meine Hand auf ihren Oberschenkel. Die Hand war so kalt, dass ich ihre Körperwärme nicht spürte. Erst langsam erwärmte sie sich, bis ein Kribbeln entstand und Hitze in die Fingerkuppen schoss.
    Inez saß da, wie sie wahrscheinlich die ganze Zeit dagesessen hatte, eine Stunde oder zwei, solange ich weg war, oben auf der Klippe, als ich da stand und daran dachte, das Gewicht zu verlagern und dem Sog nachzugeben.
    »Wo warst du?«
    »Rumlaufen.«
    »Gut, dass du wieder da bist.«
    »Darf ich reinkommen?«
    »Pass auf, da sind Scherben.«
    »Hast du gehofft, ich würde nicht wiederkommen?«
    »Komm rein.«
    Sie saß auf dem Sofa, und ich wollte sie anfassen. Ich wollte diese Frau berühren. Ich wusste, wie es sich anfühlte, sie zu berühren. Es musste eine Berührung geben. Die Berührung würde uns aus der Starre erlösen. Die Frage war nur, welche. Die Frage war, ob die Berührung sein durfte wie immer. Oder ob diese Berührungen verboten waren jetzt, wo jede Berührung unter Generalverdacht stand. Zwischen vorher und nachher blieb die Berührung doch gleich. Aus meiner Hand war nicht die eines anderen geworden. Aus unseren Körpern nicht die Körper anderer. Die Müdigkeit bewirkte, dass ich meine Hand wie einen Gegenstand bewegte und mit

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