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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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»Bei dem weiß man nie.«
    »Er hat gesagt, er kennt dich.«
    »Der behauptet viel, wenn der Tag lang ist.«
    »Er klang ziemlich überzeugend.«
    »Ach, Erik. Das ist einer von diesen aufdringlichen Idioten! Der konnte schon vor zwanzig Jahren nicht anders.«
    »Er will mit dir reden.«
    »Kann einfach nicht locker lassen«, sagte Inez.
    Wir waren bei der zweiten oder dritten Flasche Bier.
    »Und ich hatte gehofft, er würde noch am selben Tag wieder abreisen. Als wüsste ich es nicht besser.« Nach der Belehrung vor dem Fahnenmast habe sie am Bürofenster gestanden und gesehen, wie Rainer Feldberg den Strand hinaufkam, sagte sie. Sie habe beobachtet, wie er seine Hosen vorn an der Bügelfalte sorgfältig anhob, damit die Hosenbeine nicht sandig wurden. Sie habe reglos dagestanden und zugesehen, wie Rainer Feldberg sich langsam über die Steine voranarbeitete, und im selben Moment habe sie den Wind gehört, obwohl es an diesem Tag windstill war. Sie habe das Schaben der Wacholderäste gehört und das Pfeifen, das entstand, wenn der Wind das trockene Inselgras bog. Sie habe die Wirbel gehört, die entstanden, wenn sich die Ströme vom offenen Meer mit dem Aufwind an der Felswand mischten, und das Platzen der Schaumblasen, die der Sturm auf den Sand drückte. Dann habe sie die Jalousie heruntergelassen.
    In diesem Augenblick habe sie beschlossen, sich Rainer Feldberg gegenüber so zu verhalten, als kenne sie ihn nicht. Sie würde behaupten, er täusche sich.
    »Keine Ahnung, worauf Sie sich da eingeschossen haben, habe ich zu ihm gesagt. Aber wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann; die Tour beginnt in fünf Minuten.«
    »Du hast den Typen abblitzen lassen«, sagte ich, stellte die Flasche auf den Boden und zog mein Sweatshirt an. Es wurde kühl. »Ist doch völlig korrekt.«
    Inez antwortete nicht. Sie sah in den dunkel verhangenen Himmel, an dem nur ein einziger Stern zu sehen war, auch der nur schwach.
    »Ich meine, wenn ich erst mal anfange, zu erzählen, wer mich alles –«
    »Was?«, sagte Inez wie von weit her.
    »Ich meine, wer mich alles hat abblitzen lassen. Denen steig ich doch zwanzig Jahre später nicht mehr nach.«
    »Dazu bist du auch zu jung, Erik.«
    »Was ist denn das für ein Typ, dem zwanzig Jahre später einfällt, dass er’s da vielleicht noch mal versuchen könnte?«
    »Es geht nicht um gekränkte Liebhaber«, sagte Inez. »Oder jedenfalls nicht nur.«
    »Und worum geht es?«
    Inez hielt die Bierflasche vor den blassroten Himmel und betrachtete das Bier in der Flasche.
    »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dich jemand abblitzen lässt«, sagte sie unvermittelt.
     
    In dieser Nacht hatten wir uns geküsst, und den nächsten Tag verbrachte Inez mit mir am Strand. Wir hatten uns eine Stelle gesucht, die hinter einer steil aufragenden Felswand lag. Wenn man sich vor der Wand durch die Büsche schlug, tat sich überraschend ein kleiner, feinsandiger Strandabschnitt auf. Das Wasser war schneidend kalt, aber die Sonne hatte aufgedreht und wärmte den Sand und uns, und Inez’ Hand wärmte meinen Bauch. Wir hatten uns in der Nacht geküsst, aber wir hatten sie nicht zusammen verbracht.
    »In Wahrheit bin ich noch nie abgeblitzt«, sagte ich. »Außer bei dir.«
    Inez lag neben mir im Sand und spielte mit meinem Hemd. Sie fing an, es von unten nach oben aufzuknöpfen.
    »Für mich sieht das hier nicht nach Abblitzen aus«, sagte sie. »Für mich sieht das eher nach einer ziemlich aussichtslosen Leidenschaft aus.«
    »Wir könnten mein Praktikum verlängern.«
    »Aussichtslos, aber nicht ohne Romantik«, sagte Inez.
    »Was spricht denn dagegen?«
    »Oh, nichts.« Inez lachte. Sie öffnete den letzten Knopf und legte ihr Kinn auf meine Brust. »Außer, dass du gerade erst am Anfang bist«, sagte sie. »Dass du noch viel vorhast.«
    »Das lässt sich verschieben.«
    »Und dass ich nicht mehr so viel vorhabe.«
    »Wenn du den Altersunterschied meinst; ich bin nicht einer von diesen Spießern.«
    »Nein«, sagte Inez, streckte ihren Arm aus, um mir die Hand an die Wange zu legen, »das bist du nicht«, verfehlte sie aber, und ihre Hand landete auf meinen Augen. »Das wäre auch meine geringste Sorge.«
    Unter ihrer Hand war es dunkel. Unter ihrer Hand war es warm, und ich spürte dem leichten Druck ihrer Finger nach, dem Gewicht ihres Oberkörpers auf meinem, ich spürte ihrem Duft nach, den ich nachts zuvor auf dem Plateau zum ersten Mal so intensiv wahrgenommen hatte, dass ich mir einbildete,

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