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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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eine in Klintehamn befindliche Materialsammelstelle wieder ab. Inez war nach Visby gefahren, weil sie eine Vorladung des Inselvereins erhalten hatte. Sie hatte meinen Aufenthalt auf Stora Karlsö begründen müssen und spontan eine zweite Praktikantenstelle geschaffen.
     
    Auf der Fähre auf dem Weg zurück verschwimmen die Zeiten. Der Schiffsmotor stampft. Er lässt die Sitze und die festgeschraubten Tischplatten vibrieren, er scheint die Abfolge der Ereignisse durcheinanderzuschütteln.
    Vielleicht versteife ich mich. Vielleicht versuche ich mich nur deshalb an die Abfolge zu halten, um das hinauszuzögern, was damals als sich verdichtende Ahnung tatsächlich erst später kam, was hier auf der Fähre aber immer gleichzeitig Gewissheit ist.
    Ich betrüge mich selbst. Ich will noch einmal der sein können, der ich war, bevor ich den Namen Felix Ton zum ersten Mal hörte. Noch einmal der, der nicht weiß, dass es die Angst ist, die die Menschen so gefährlich macht, ich will noch einmal der Junge sein mit seinem naiven Vertrauen aufs Tarot.
    Ich will mich so lange wie möglich daran erinnern, wie wir waren, Inez und ich, in diesem Sommer, unbefangen auf einem öden, fossilen Stück Land, Inez und ich in diesem unwirklichen Licht auf der Insel.
    Nach dem Gespräch mit Rainer Feldberg in der Teeküche hatte ich die Sonnenstühle mit einem Handfeger gesäubert. Ich hatte sie an die Westseite des Leuchtturms gestellt, der kein Turm war, sondern eine geräumige, etwas heruntergekommene Villa mit zwei Etagen und einer breiten Treppe im Vestibül. Das Leuchtfeuer ragte in der Mitte des Daches wie ein Schornstein auf. Ich stellte die Stühle dicht an die Hauswand. Dort war es windgeschützt und warm. Am frühen Abend kaufte ich im Museumscafé ein Sixpack
Lättöl
und ging damit, ohne anzuklopfen, in Inez’ Büro.
    Die Sonne stand voll im Zimmer. Über den Computern flirrte Staub. Wie eine goldene Haube lag er um Inez’ nackte Schultern. Sie war nur mit einem Top bekleidet. Eine Hand lag auf der Maus.
    »Was gibt’s?« Sie sah nicht auf.
    Ich schloss die Tür, baute mich vor ihr auf und erklärte, ich würde erst wieder gehen, wenn sie meine Einladung zum Bier angenommen hätte.
    Die Pappe des Sixpacks schnitt in meine Finger.
    Inez lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie sah mich an. Sie betrachtete mein Gesicht, meinen Oberkörper, dann ging ihr Blick an meinem Arm hinunter zu meiner Hand, die das Sixpack hielt. Sie lächelte. »Und wieso hast du dafür so lange gebraucht?«
    Seit diesem Tag saßen wir abends auf dem Plateau. Wir hatten einen weiten Blick über das Meer. Wir konnten die Umrisse der Küste sehen, die zerklüftete Linie bis nach Lerberget, in der Ferne fuhren die Autofähren nach Stockholm oder Danzig vorbei.
    Anfangs waren unsere Stimmen noch hell im Tageslicht, sie übertönten das Geräusch eines Motorboots, das lauter wurde, als das Boot in die Kurve ging, dann wieder nachließ und gegen Abend bei ruhiger See zu einem gleichmäßigen Summen wurde, bis sich unsere Stimmen voneinander lösten, ihre Stimme und meine, und einzelne Silben wie ausgerissen in der Nachtluft standen.
    Jeden Abend wartete ich auf Inez. Ich wartete, bis sie sich den Geruch ihrer Arbeit von Händen und Hals gewaschen hatte und zu mir kam. Die Sonne ging nicht unter. Wir saßen dort, bis die Sonne auf der Linie zwischen Himmel und Wasser langsam verschwamm.
    Aber wie soll ich uns noch einmal so wahrnehmen, Inez und mich, wenn doch der Klang unserer Stimme von den Ereignissen, die danach kamen, längst verzerrt worden ist.
     
    Feldberg war ich dankbar. Er hatte meinen Ehrgeiz angestachelt, er hatte mir Mut gemacht, und ich hatte es riskiert, Inez zu fragen.
Wieso hast du dafür so lange gebraucht?
Sie hatte ihren Computer heruntergefahren und das Büro abgeschlossen. Wir waren mit dem Minitraktor zum Leuchtturm hinaufgefahren. Wir hatten das dünne schwedische Bier getrunken, bei dem auch die leichteste Trunkenheit schon wieder nachgelassen hat, bevor die Flasche leer ist, wir unterhielten uns höflich und etwas verkrampft über das Thema ihrer Arbeit und über meine Studienpläne. Dann schaltete sie das Funkgerät aus und sagte:
    »Kann Feldberg uns eigentlich hören?«
    »Ich glaube nicht. Wieso?«
    »Sollen wir uns lieber woanders hinsetzen?«
    »Um die Uhrzeit ist er selten im Zimmer.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja. Wieso?«
    »Ich will nicht, dass er uns hört.«
    »Sein Zimmer geht nach Norden raus.«
    »Gut«, sagte Inez.

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