Sturz der Tage in die Nacht
an der Fensterseite türmten, beladen mit Tabellen und Briefen. Die Kiste mit Datenloggern stand unverändert neben dem Drucker. Als ich Inez fragte, ob sie etwas vermisse, sah sie mich überrascht an. Wir waren allein im Büro, die Jalousie war zur Hälfte aufgezogen.
»Ich weiß es nicht.« Sie machte sich an der Kiste mit Datenloggern zu schaffen, schloss einen der Logger über ein Verbindungskabel an ihren Laptop an. »Wenn ich dich sehe, Erik«, sagte sie schließlich, »habe ich jedesmal das Gefühl, mich daran zu erinnern.«
»Woran.«
»An das, was ich vermisse.«
Ich war an diesem Morgen verkatert aufgestanden, hatte einen Kaffee getrunken und mich beeilt, einer der Ersten im Museum zu sein. Die ganze Nacht hatte ich im halbwachen Zustand und mit Rest-Aquavit im Blut Feldbergs Worte im Kopf herumbewegt und versucht, sie loszuwerden, wobei sie immer nur tiefer eingedrungen waren und ein Misstrauen aufgeschürt hatten, das ganz eindeutig Inez und nicht Feldberg galt.
»Dann ist alles in Ordnung hier?«
»Natürlich ist alles in Ordnung«, sagte Inez. »Was ist denn los mit dir?«
Ich war mit einem dumpfen Druck im Kopf eingeschlafen, und er hielt auch jetzt noch an. Ich stand da wie im Nebel. Die Nacht, das Büro, diese Frau erschienen mir undeutlich, entfernt.
»Erik?«, sagte Inez leise. »Erik?« Und als ich sie durch den Nebel hindurch ansah und auf sie zugehen und in die Arme nehmen wollte, sagte sie rau wie immer: »Da du so früh bist, könntest du aus den ausgelesenen Loggern schon mal die Batterien rauslöten und neue einlöten. Dann schaffen wir es vielleicht, sie heute noch zu kalibrieren.«
»Ist das alles?«
»Das wäre erst mal alles, ja.« Sie setzte sich an ihren Computer.
»Und was hast du gerade in der Mappe verschwinden lassen?«
»Welche Mappe?«
»Die gelbe. Hinter dir im Regal.«
»Wenn du mich jetzt fragen würdest, was ich vermisse, würde ich sagen eine gewisse Unaufdringlichkeit.«
Ich stand da wie im Nebel, und auf einmal ging mich das alles nichts mehr an. Weder diese Frau noch die Probleme auf der Insel oder der Typ mit seinem Knick im Hut, der sich aufführte wie ein antiquierter Detektiv. Ich hatte sein verheißungsvolles Herummenscheln satt, ich hatte es satt, dieser Frau nachzulaufen, ich wollte meinen Rucksack nehmen und abreisen, nach Hause fahren, zurück ins normale Leben und mit dem weitermachen, was ich mir vorgenommen hatte, statt meine Zeit mit sinnlosen Geschichten zu vergeuden und meiner Mutter verkrampfte Karten zu schreiben, und ich wollte auch nicht mehr von diesem untergründigen Fieber getrieben sein.
Als Inez am frühen Nachmittag mit einer Tour draußen in den Felsen war, ging ich in ihr Büro. Ich nahm die Mappe aus dem Regal. Der Artikel stammte aus der Online-Ausgabe einer deutschen Zeitung. Es war ein nichtssagendes Interview mit einem Kandidaten für den Bundestag, ein Brandenburger, der auf ein Direktmandat hoffte, sich volksnah gab und seine Heimat- und Familienverbundenheit als Trumpfkarten ausspielte. Auf dem Bild unter dem Artikel hatte er für den Fotografen ein Gesicht gemacht, das er für ein trauriges halten musste. Die Bildunterschrift lautete: »Ein Vater gibt nicht auf.«
Ich setzte mich auf Inez’ Bürostuhl. Die Jalousie klapperte gegen das Fenster. Auf dem Tisch stand ihr Kaffeebecher, halb ausgetrunken, der Kaffeerest kalt.
»Kandidat für den Bundestag stellt sich vor«, lautete die Überschrift. »Gestern präsentierte sich der Kandidat der CDU im Haus der Sozialen Gerechtigkeit der Presse.« Das Interview nahm eine Doppelseite ein, darunter gab es eine Anzeige für Wurst.
» MAZ : ›Herr Ton, Sie sind ein Neuling auf der politischen Bühne und steigen gleich mit einem Direktmandat ein. Glauben Sie, Sie werden das Vertrauen der Wähler gewinnen?‹
Ton: ›Ich bin sicher, dass ich durch meine langjährigen Erfahrungen als Mann der Wirtschaft wertvolle Kenntnisse in meine politische Arbeit einbringen kann, und als alteingesessener Brandenburger sind mir die Nöte und Sorgen meiner Landsleute vertraut.‹
MAZ : ›Was würden Sie als die drei wichtigsten Punkte bezeichnen, für die Sie als Person stehen?‹
Ton: ›Ich stehe für soziale Gerechtigkeit, Schutz von Ehe und Familie, halte eine saubere Kernenergiepolitik für zwingend notwendig und befürworte eine lückenlose Aufklärung der DDR -Vergangenheit im zwanzigsten Jahr nach der Wende. Im Wahlkampf wird es auch darum gehen, zu zeigen, wie wacklig die
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