Sturz der Tage in die Nacht
stand. Sie sah nur seinen Schatten. Dann hob er den Kopf. Er blieb ganz ruhig, er bellte nicht. Wenn sie Feldberg bisher mit seinem Hund gesehen hatte, hatte er ihn an der kurzen Leine geführt. Aber er schien nicht gedrillt, nicht militärisch abgerichtet zu sein, er musste keine Kommandospielchen mitmachen, und dafür war sie Feldberg fast dankbar gewesen, obwohl sie nicht einmal den Namen des Hundes gewusst hatte.
Sie blieb stocksteif, wo sie war, im Rücken den Verschlag. Der Hund kam zu ihr gelaufen. Er schnupperte an ihren Schuhen. Als sie sich nicht rührte, drehte er sich um und drängte seinen Hintern gegen ihre Beine. Er rieb sein Hinterteil an ihrer Hose. Sein Stumpf schlug gegen ihre Schienbeine, eine harte, kurze Gummipeitsche. Sie rührte sich immer noch nicht. Der Hund sah sich nach ihr um. Er fing erneut an, sich zu reiben. Sie spürte seine zitternden Hinterbacken. Vorsichtig legte sie eine Hand auf seinen Rücken, um ihn davon abzuhalten. Sie versuchte, ihn zu streicheln, weil es ihr peinlich war, vor sich selbst, vor dem Hund, vor den Leuten auf der Terrasse, die sie gar nicht sahen, von denen sie aber annahm, dass sie den Hund vermissen und vielleicht nach ihm suchen würden, und dann wäre entdeckt, dass sie alle belauscht hatte.
Unter ihrem Streicheln wurde der Hund ruhig. Schon damals kam ihr das unanständig vor. Aber erst später hatte sie begriffen, warum. Als Felix Ton in seinem Wartburg zu ihr gesagt hatte
Lass mal. Zieh dich wieder an
, hatte sie begriffen, was mit diesem Hund los war. Sie hatte begriffen, dass er nichts anderes kannte, dass er darauf abgerichtet war, seinen Arsch zu präsentieren, dass diese Bewegung ihm die einzige Form der Zuneigung einbrachte, die ihm zustand, ihm gebührte, dachte Inez in ihrem kleinen Zimmer mit der roten Stehlampe. Die Fenster der Hütte klapperten. Sie hatte begriffen, dass dieser Hund auf die sexuelle Befriedigung seines Herrchens gedrillt war.
Die Ostsee schlug gleichmäßig an.
Der Himmel im Schlafzimmerfenster hob sich schwach von der aufragenden Felswand ab. Das Kopfkissen war durchgeschwitzt. Wasser hatte sich zwischen den Brüsten gesammelt, auch das Laken war nass. Inez stand auf und tastete sich ins Bad, griff nach einem der Handtücher, um sich trockenzurubbeln, sie machte kein Licht. Sie wollte sich nicht im Badspiegel sehen.
Am Morgen dachte sie, auch das wäre eine Fiebererscheinung gewesen. Sie hätte den düsteren Anbau in Feldbergs Datsche für ihr Bad gehalten. Feldberg hatte einen Schlauch und ein Plumpsklo unter einem Wellblechdach installiert, und sie hatte den Lichtschalter nicht gefunden. Sie war damals im Dunkeln zum Klo gestürzt. Das gegrillte Fleisch hatte so stark nach Tier geschmeckt, feucht und modrig und bitter, dass ihr alles hochgekommen war, und auf der Flucht ins Bad war sie in die Pfütze getreten und gegen die Frau mit der Cola-Wodka getaumelt, und während sie kotzte, war ihr der Gestank aus dem Plastetank entgegengeschlagen, und sie hatte die Frau lachen gehört und dann Ton, der gegen die Tür donnerte.
Aber das Handtuch, das am Morgen im Bad ihrer Inselhütte auf dem Boden lag, war weich und frisch gewaschen. Das Handtuch erinnerte sie daran, dass sie nachts aufgewacht und ins Bad gegangen sein musste. Es erinnerte sie daran, dass sie sich gerettet hatte, dass sie entkommen war.
Als das Fieber nachließ, machte Inez sich einen Tee. Sie stand auf und duschte, sie zog sich eine bequeme Hose und ein Hemd an und setzte sich mit dem Tee an den schmalen Küchentresen. Das Notizbuch lag neben dem Abtrockenkorb. Sie blätterte es durch. Sie stieß auf Beobachtungen, die sie nirgendwo verwenden konnte. Auf Telefonnummern, die sie nicht anrufen würde. Auf Gedanken, die noch nicht spruchreif waren, wie der Gedanke, sich nach Ablauf des Doktorandenstipendiums, wenn die Forschungsarbeit auf Stora Karlsö abgeschlossen war, ins Ausland zu bewerben. Der Gedanke, sich die Haare wieder kürzer zu schneiden. Der Gedanke, wie fragil die Idee der Vererbung war, wenn schon kleine Veränderungen der Umwelt die vermeintlich fundamentale Weitergabe der Gene von einer Generation zur nächsten stören konnten.
Oder ein Gedanke dieses Sommers, genaugenommen, der Gedanke, den sie notiert hatte, nachdem Feldberg den Ausdruck des MAZ -Artikels wie zufällig auf dem Fußboden ihres Büros hatte liegenlassen: Felix Ton einen Brief zu schreiben, in dem sie ihm mitteilte, dass sie an die Presse gehen würde. Sie würde
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