Sturz der Titanen
sie gelernt hatte, seitdem sie als Dreizehnjährige frisch von der Schule hierher nach Ty Gwyn gekommen war. Sie wusste nun, wie die Oberschicht lebte, wie sie speiste, wie sie sprach und sogar, wie sie dachte. Sie verstand etwas von Mode und von Kunst. Bei Gemälden und Möbeln sah sie auf den ersten Blick, aus welchem Jahrhundert und welcher Epoche sie stammen. Vor allem aber, dachte sie verbittert, hatte sie gelernt, dass man der Liebe nicht trauen durfte.
Ethel stieg den Hügelhang hinunter nach Aberowen und ging zur Wellington Row. Die Haustür ihrer Eltern war wie immer unverschlossen. Sie ging hinein. Das größte Zimmer, die Küche, war kleiner als der Vasenraum auf Ty Gwyn, der nur benutzt wurde, um Blumenschmuck herzurichten.
Mam knetete Brotteig. Als sie Ethels Koffer sah, hielt sie inne und fragte: »Was ist passiert?«
»Ich komme zu euch zurück«, sagte Ethel, stellte den Koffer ab und setzte sich an den Küchentisch. Sie schämte sich zu sehr, die Wahrheit zu sagen.
Mam erriet es dennoch. »Du bist entlassen worden!«
Ethel brachte es nicht über sich, ihr ins Gesicht zu sehen. »Ja. Tut mir leid, Mam.«
Mam wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Was hast du angestellt?«, fragte sie. »Raus mit der Sprache.«
Ethel seufzte. Warum sprach sie es nicht offen aus? »Ich habe mir ein Kind andrehen lassen.«
»O Gott.« Mam griff sich ans Herz. »Du verderbtes kleines Ding!«
Ethel kämpfte gegen die Tränen an. Sie hatte auf Mitgefühl gehofft, nicht auf Verdammung. »Ja, ich habe mich versündigt«, sagte sie, nahm den Hut ab und versuchte, Haltung zu wahren.
»Dir ist dein Umgang zu Kopf gestiegen, nicht wahr? Dass du in dem großen Haus arbeitest und Könige und Königinnen kennenlernst. Darüber hast du ganz vergessen, wie wir dich erzogen haben!«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
»Es wird deinen Vater umbringen.«
»Er muss kein Kind zur Welt bringen«, erwiderte Ethel. »Er wird es überstehen.«
»Sei nicht frech! Es wird ihm das Herz brechen!«
»Wo ist er?«
»Auf einer Streiksitzung. Aber lenk jetzt nicht ab. Denk doch nur an seine Stellung hier in der Stadt! Ältester der Kapelle, Gewerkschaftssekretär, Ortsvorsitzender der Arbeiterpartei … wie soll er auf den Sitzungen den Kopf oben halten, wenn jeder denkt, seine Tochter ist ’ne Schlampe?«
Ethels Selbstbeherrschung bröckelte. »Es tut mir leid, dass ich ihm Schande bereite«, sagte sie und brach in Tränen aus.
Mams schlechte Laune schlug in Mitleid um. »Jaja«, seufzte sie. »Das ist mal wieder die älteste Geschichte der Welt.« Sie kam um den Tisch herum und drückte Ethels Kopf an ihre Brust. »Ist ja gut«, sagte sie leise, so wie damals, wenn Ethel sich als kleines Mädchen ein Knie aufgeschlagen hatte.
Nach einiger Zeit verebbte Ethels Schluchzen.
Mam gab sie frei und sagte: »Ich mach uns mal was Tee.« Auf dem Herd stand wie immer ein Wasserkessel, und Mam gab Teeblätter in eine Kanne, goss kochendes Wasser darüber und rührte mit einem Holzlöffel um. »Wann erwartest du das Kind?«
»Im Februar.«
»Im Februar.« Mam drehte sich vom Herd zu Ethel um. »Du meine Güte, ich werd Oma.«
Beide mussten lachen. Mam stellte Tassen hin und schenkte Tee ein. Ethel trank und fühlte sich gleich besser. »Hattest du schwere Geburten, Mam?«, fragte sie.
»Leichte Geburten gibt’s keine, aber bei mir war’s einfacher als bei den meisten anderen Frauen, hat meine Mutter gesagt. Trotzdem, seit Billys Geburt ist mein Rücken nicht mehr so wie vorher.«
Billy kam die Treppe herunter und fragte: »Hab ich da gerade meinen Namen gehört?« Zuerst war Ethel verwundert, dass er zu Hause war; dann fiel ihr ein, dass er wegen des Streiks ausschlafen konnte. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, kam er ihr größer und breitschultriger vor. »Morgen, Ethel«, sagte Billy und küsste sie mit einem stachligen Schnurrbart. »Wieso der Koffer?« Er setzte sich an den Tisch, und Mam goss ihm Tee ein.
»Ich habe etwas Dummes angestellt, Billy«, sagte Ethel. »Ich bekomme ein Kind.«
Er starrte sie an, zu schockiert, um zu sprechen. Dann wurde er rot; ohne Zweifel dachte er an das, was sie getan haben musste, ehe sie schwanger geworden war. Verlegen senkte er den Blick und trank wieder von seinem Tee. Schließlich fragte er: »Wer is’n der Vater?«
»Den kennst du nicht.« Ethel hatte sich in der Nacht eine Geschichte zurechtgelegt. »Ein Diener, der mit einem Gast nach Ty Gwyn gekommen war. Jetzt ist er in der
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