Sturz der Titanen
entscheidenden Stunde.
Lichnowsky sagte ins Telefon: »Die russische Mobilmachung ist von einer zuverlässigen Quelle hier bestätigt worden.«
Er hörte ein paar Augenblicke zu. Schweigen senkte sich herab. Niemand bewegte sich. »Jawohl«, sagte Lichnowsky schließlich. »Ich verstehe. Gut.«
Er legte auf. Das Klicken klang wie ein Donnerschlag. »Der Kanzler hat eine Entscheidung getroffen«, erklärte Lichnowsky; dann wiederholte er die Worte, vor denen Walter sich so sehr gefürchtet hatte: »Es herrscht drohende Kriegsgefahr. Bereiten Sie alles für den Beginn der Feindseligkeiten vor.«
Kapitel 10
1.–3. August 1914
Maud war außer sich vor Sorge. Am Samstagmorgen saß sie im Frühstückszimmer des Hauses in Mayfair, bekam aber keinen Bissen herunter. Durch die hohen Fenster schien die Sommersonne. Das Dekor sollte beruhigend wirken – persische Teppiche, nilgrüne Wände, mittelblaue Vorhänge –, doch Maud war zutiefst verängstigt. Der Krieg kam, und niemand schien ihn aufhalten zu können, weder der deutsche Kaiser noch der Zar oder Sir Edward Grey.
Bea trat ins Zimmer. Sie trug ein duftiges Sommerkleid und einen Spitzenschal. Grout, der Butler, schenkte ihr mit weißen Handschuhen Kaffee ein, und sie nahm sich einen Pfirsich aus der Obstschale.
Maud blickte auf die Zeitung, war aber zu unruhig, um sich zu konzentrieren, und überflog nur die Schlagzeilen. Dann schob sie die Zeitung beiseite. Grout hob sie auf und faltete sie säuberlich zusammen. »Nur keine Sorge, Mylady«, sagte er. »Wir werden den Deutschen eine Abreibung verpassen, wenn es sein muss.«
Sie blickte ihn wütend an, sagte aber nichts. Mit Dienstboten zu streiten war sinnlos – am Ende stimmten sie einem aus Unterwürfigkeit sowieso zu.
Tante Herm wurde den Butler auf taktvolle Weise los. »Gewiss haben Sie recht, Grout«, sagte sie. »Wenn Sie so gut wären, noch warme Brötchen zu bringen?«
Fitz kam herein und erkundigte sich bei Bea nach ihrem Befinden. Sie zuckte mit den Schultern. Maud spürte, dass sich an der Beziehung zwischen den beiden irgendetwas verändert hatte, war aber zu abgelenkt, um darüber nachzudenken. Stattdessen erkundigte sie sich bei Fitz: »Was war gestern Abend?« Sie wusste, dass er mit führenden Konservativen in einem Landhaus namens Wargrave konferiert hatte.
»F. E. ist mit einer Nachricht von Winston gekommen.« F. E. Smith, ein konservativer Parlamentsabgeordneter, war ein enger Freund des liberalen Churchill. »Er hat eine liberal-konservative Koalitionsregierung vorgeschlagen.«
Maud war entsetzt. Meist wusste sie, was in liberalen Kreisen vor sich ging, aber dieses Ansinnen hatte Premierminister Asquith geheim gehalten. »Das ist ungeheuerlich!«, rief sie aus. »Dadurch wird Krieg noch wahrscheinlicher!«
Mit aufreizender Ruhe nahm Fitz sich Würstchen aus dem Wärmbehälter auf dem Büfett. »Der linke Flügel der Liberalen ist kaum besser als die Pazifisten. Ich könnte mir vorstellen, dass Asquith befürchtet, sie könnten versuchen, ihm die Hände zu binden. Er hat innerhalb seiner eigenen Partei nicht genügend Unterstützung, um sie zu überstimmen. An wen kann er sich um Hilfe wenden? Nur an die Konservativen. Daher der Vorschlag einer Koalition.«
Genau das war es, was Maud fürchtete. »Was hat Bonar Law zu dem Angebot gesagt?« Andrew Bonar Law war der führende Kopf der Konservativen.
»Er hat es abgelehnt.«
»Gott sei Dank.«
»Und ich habe ihn unterstützt.«
»Wieso? Möchtest du nicht, dass Bonar Law einen Sitz in der Regierung bekommt?«
»Ich hoffe auf mehr. Wenn Asquith Krieg will und Lloyd George eine linke Rebellion anzettelt, könnten die Liberalen zu stark gespalten werden, um noch regierungsfähig zu sein. Und was geschieht dann? Wir Konservative müssten die Regierung übernehmen – und Bonar Law wird Premierminister.«
Zornig erwiderte Maud: »Siehst du denn nicht, wie sich alles zum Krieg zu verschwören scheint? Asquith möchte eine Koalition mit den Konservativen, weil sie aggressiver sind. Wenn Lloyd George gegen Asquith rebelliert, übernehmen die Konservativen die Regierung. Jeder versucht Vorteile für sich herauszuschlagen, statt für den Frieden zu kämpfen!«
»Was ist mit dir?«, fragte Fitz. »Warst du gestern Abend auf Halkyn House?« Das Haus des Earls von Beauchamp war das Hauptquartier der Friedensfraktion.
Mauds Stimmung hellte sich auf. Es gab doch noch einen Hoffnungsschimmer. »Asquith hat für heute Morgen eine
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