Sturz der Titanen
enthusiastisch. Was war der Grund für diesen Sinneswandel?
Vorsichtig wagte Walter sich weiter vor. »Du wirst London verlassen müssen.«
»Du auch.«
Walter nickte. Wenn Großbritannien in den Krieg eintrat, würde man alle österreichischen und deutschen Botschaftsangehörigen kurzfristig nach Hause rufen. Er senkte die Stimme. »Gibt es da … Gibt es jemanden, den du besonders vermissen wirst?«
Robert nickte. Tränen funkelten in seinen Augen.
Walter wagte eine Vermutung. »Lord Remarc?«
Robert lachte freudlos. »Ist das so offensichtlich?«
»Nur für jemanden, der dich kennt.«
»Dabei dachten Johnny und ich, wir wären diskret.« Kläglich schüttelte Robert den Kopf. »Na ja, wenigstens kannst du Maud heiraten.«
»Nein, kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Eine Ehe zwischen einem Deutschen und einer Engländerin, wenn die beiden Völker im Krieg miteinander liegen? Niemand würde mehr etwas mit Maud zu tun haben wollen. Und das gilt auch für mich. Für mich wäre es ja egal, aber Maud würde ich ein solches Schicksal niemals aufbürden.«
»Macht es doch heimlich.«
»In London?«
»Heiratet in Chelsea. Da kennt euch niemand.«
»Muss man dafür nicht hier gemeldet sein?«
»Du musst einen Briefumschlag mit deinem Namen und einer hiesigen Adresse vorzeigen. Ich wohne in Chelsea. Ich kann dir einen Brief geben, der an ›Mr. von Ulrich‹ adressiert ist.« Robert kramte in einer Schreibtischschublade. »Ah, da hätten wir ja schon was. Eine Rechnung von meinem Schneider, adressiert an ›Von Ulrich, Esquire‹. Sie halten ›Von‹ für meinen Vornamen.«
»Vielleicht haben wir keine Zeit mehr.«
»Ihr könnt eine Sondergenehmigung bekommen.«
»O Gott.« Walter fühlte sich wie benommen. »Du hast recht. Das geht.«
»Du musst ins Rathaus.«
»Ja.«
»Soll ich dir den Weg zeigen?«
Walter dachte lange nach. »Ja, bitte«, sagte er dann.
»Die Generäle haben gesiegt«, sagte Anton. Er stand vor dem Grab von Edward dem Bekenner in der Westminster Abbey. Es war Freitag, der 31. Juli. »Der Zar hat gestern Nachmittag nachgegeben. Die Russen machen endgültig mobil.«
Das war ein Todesurteil. Walter lief es eiskalt über den Rücken.
»Das ist der Anfang vom Ende«, fuhr Anton fort, und Walter sah ein rachsüchtiges Funkeln in seinen Augen. »Die Russen halten sich für stark, weil ihre Armee die größte der Welt ist. Aber sie haben eine schwache Führung. Das ist das Armageddon!«
Walter hörte dieses Wort nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche. Diesmal aber wusste er, dass es berechtigt war. In ein paar Wochen würde die russische Armee von sechs Millionen Mann – sechs Millionen – an den Grenzen Deutschlands und Ungarns stehen. Keine europäische Nation konnte solch eine Bedrohung ignorieren. Deutschland würde ebenfalls mobilmachen müssen. Der Kaiser hatte keine Wahl mehr.
Walter konnte nichts mehr tun. In Berlin drängte der Generalstab auf eine deutsche Mobilmachung, und der Kanzler, Theobald von Bethmann Hollweg, hatte für heute Mittag eine Entscheidung versprochen.
Walter musste sofort Berlin informieren. Eilig verabschiedete er sich von Anton und verließ die Kirche. So schnell er konnte, ging er durch die kleine Straße mit Namen Storey’s Gate, eilte am Ostrand des St. James’ Park entlang, stieg die Stufen am Denkmal für den Herzog von York hinauf und betrat die deutsche Botschaft.
Die Tür des Botschafters stand auf. Fürst Lichnowsky saß an seinem Schreibtisch; Otto von Ulrich stand neben ihm. Gottfried von Kessel telefonierte. Es waren ein Dutzend weitere Personen zugegen, und ständig kamen Schreiber in den Raum oder verließen ihn.
Walter atmete schwer. Keuchend fragte er seinen Vater: »Was ist los?«
»Berlin hat ein Telegramm von unserer Botschaft in Sankt Petersburg bekommen. Da steht einfach nur: ›Erster Tag der Mobilmachung 31. Juli.‹ Berlin versucht, die Meldung zu bestätigen.«
»Was macht von Kessel da am Telefon?«
»Er hält Verbindung mit Berlin, damit wir es sofort erfahren.«
Walter atmete tief durch und trat einen Schritt vor. »Durchlaucht«, sagte er zu Fürst Lichnowsky.
»Ja?«
»Ich kann die russische Mobilmachung bestätigen. Mein Informant hat mir vor weniger als einer Stunde davon berichtet.«
»In Ordnung.« Lichnowsky streckte die Hand nach dem Hörer aus, und von Kessel gab ihn ihm.
Walter schaute auf die Uhr. Es war zehn vor elf – in Berlin war es eine Stunde später, also kurz vor Mittag, der
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