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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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entschied sich Mauds Schicksal genauso wie das Schicksal Tausender Männer im wehrfähigen Alter. Von dem, was Grey sagte und wie das Parlament reagierte, hing es ab, ob in ganz Europa Frauen zu Witwen und ihre Kinder vaterlos wurden oder nicht.
    Maud war nicht mehr wütend; das Gefühl hatte sich möglicherweise abgenutzt. Sie hatte nur noch Angst. Krieg oder Frieden, Ehe oder Alleinsein, Leben oder Tod: Es ging um ihr Schicksal.
    Wegen des Feiertages hatten die vielen Bankangestellten, städtischen Beamten, Anwälte, Börsenmakler und Verkäufer in der City frei. Die meisten schienen sich vor den Regierungsgebäuden Westminsters zusammengeschart zu haben in der Hoffnung, die Neuigkeiten als Erste zu erfahren. Der Chauffeur lenkte Fitz’ siebensitzige Cadillac-Limousine langsam durch die Menschenmengen auf dem Trafalgar Square, der Whitehall und dem Parliament Square. Das Wetter war bedeckt, aber warm, und die modebewussteren jungen Männer trugen flache Strohhüte. Maud erhaschte einen Blick auf eine Werbetafel für den Evening Standard . Die Schlagzeile lautete: Am Rande Der Katastrophe .
    Die Menge jubelte, als der Wagen vor dem Westminster-Palast hielt. Dann folgte ein leises, enttäuschtes Stöhnen, als der Limousine nur zwei Damen entstiegen, denn die Zuschauer wollten ihre Helden sehen, Männer wie Lloyd George und Keir Hardie.
    Für Maud war der Palast die Verkörperung viktorianischer Sucht nach Prunk und Ornamentik. Der Stein war kunstvoll behauen; überall sah man Vertäfelungen in Faltenfüllung; die Bodenfliesen waren vielfarbig, die Glasscheiben bemalt und die Teppiche bunt gemustert.
    Trotz des Feiertages fand eine Unterhaussitzung statt, und das Gebäude wimmelte von Abgeordneten und Peers, die meisten in der Parlamentarieruniform: schwarzer Cutaway und schwarzer Seidenzylinder. Nur die Labour-Abgeordneten trotzten der Kleiderordnung und waren in Tweed oder in Straßenanzügen erschienen.
    Die Friedensfraktion bildete noch immer die Mehrheit im Kabinett. Lloyd George hatte seine Linie am Vorabend durchsetzen können, und die Regierung blieb untätig, solange Deutschland das belgische Hoheitsgebiet nur technisch verletzte.
    Günstigerweise hatte Italien seine Neutralität erklärt und sie damit begründet, dass der Vertrag mit Österreich-Ungarn das Land lediglich dazu verpflichte, der Donaumonarchie in einem Verteidigungskrieg beizustehen, während der österreichische Angriff auf Serbien eindeutig ein Angriffskrieg sei. Bislang, fand Maud, waren die Italiener die Einzigen, die gesunden Menschenverstand bewiesen.
    Fitz und Walter warteten in der achteckigen Central Lobby. Maud fragte sofort: »Habt ihr schon gehört, was bei der Kabinettssitzung heute Morgen geschehen ist?«
    »Es gab drei weitere Rücktritte«, antwortete Fitz. »Morley, Simon und Beauchamp.«
    Die drei Männer gehörten den Kriegsgegnern an. Maud fühlte sich entmutigt. »Lloyd George nicht?«
    »Nein.«
    »Merkwürdig.« Eine böse Vorahnung überkam sie. War die Friedensfraktion in sich gespalten? »Was hat Lloyd George vor?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Walter, »aber ich kann es mir denken.« Er wirkte ernst. »Gestern Abend hat Deutschland freien Durchgang durch Belgien für unsere Truppen gefordert. Das belgische Kabinett hat von neun Uhr abends bis vier Uhr früh getagt, dann die Forderung zurückgewiesen und erklärt, Belgien werde kämpfen.«
    Maud schnappte nach Luft. Das war eine Schreckensbotschaft.
    Fitz sagte: »Also hat Lloyd George sich geirrt – das deutsche Heer wird nicht nur eine rein technische Verletzung des belgischen Hoheitsgebietes begehen.«
    Walter schwieg, breitete nur in einer Gebärde der Hilflosigkeit die Hände aus.
    Maud fürchtete, dass das brutale deutsche Ultimatum und der verwegene Trotz der belgischen Regierung die Position der Friedensfraktion im britischen Kabinett vielleicht untergraben hatten. Belgien und Deutschland wirkten nebeneinander zu sehr wie David und Goliath. Lloyd George besaß ein Näschen für die öffentliche Meinung: Hatte er gespürt, dass die Stimmung umschlug?
    »Wir müssen auf unsere Plätze«, sagte Fitz.
    Von einem unguten Gefühl erfüllt ging Maud durch eine kleine Tür und stieg die hohe Treppe hinauf, die zur Fremdengalerie führte. Von dort hatte man einen Blick ins Unterhaus, wo die souveräne Regierung des Britischen Empires tagte und Angelegenheiten von Leben und Tod für die 444 Millionen Menschen entschieden wurden, die unter britischer Herrschaft

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