Sturz der Titanen
lebten. Jedes Mal, wenn Maud hierherkam, fiel ihr auf, wie klein es war: Das Unterhaus bot weniger Platz als eine durchschnittlich große Kirche in London.
Regierung und Opposition saßen einander auf gestuften Bankreihen gegenüber, getrennt von einer Lücke, die – der Überlieferung zufolge – zwei Schwertlängen maß, damit Kontrahenten nicht handgreiflich werden konnten. Bei den meisten Debatten war die Kammer beinahe leer; höchstens ein Dutzend Abgeordnete fläzten sich gemütlich auf der grünen Lederpolsterung. Heute jedoch waren die Bänke vollgepackt, und Abgeordnete, die keinen Platz mehr gefunden hatten, standen am Eingang. Nur die vordersten Reihen waren unbesetzt – jene Plätze, die traditionsgemäß auf der Regierungsseite für die Minister und auf der anderen Seite für die Oppositionsführer freiblieben.
Wie bedeutsam, dachte Maud, dass die heutige Debatte hier stattfindet und nicht im Oberhaus. Tatsächlich schauten außer Fitz viele andere Peers von der Galerie aus zu. Das Unterhaus besaß eine Autorität, die daher rührte, dass es vom Volk gewählt war – auch wenn nur wenig mehr als die Hälfte aller erwachsenen Männer und keine einzige Frau das Wahlrecht besaß. Asquith hatte einen guten Teil seiner Zeit als Premierminister im Kampf gegen das Oberhaus verwendet, insbesondere wegen Lloyd Georges Plan, allen alten Menschen eine kleine Rente zukommen zu lassen. Die Kämpfe waren manchmal heftig gewesen, doch jedes Mal hatte das Unterhaus den Sieg davongetragen. Den Grund dafür sah Maud in der Furcht des englischen Adels, die Französische Revolution könne sich auf britischem Boden wiederholen.
Die Vorderbänkler kamen herein. Maud erfasste auf Anhieb die Stimmung unter den Liberalen. Premierminister Asquith lächelte über eine Bemerkung des Quäkers Joseph Pease, und Lloyd George sprach mit Sir Edward Grey.
»O Gott«, murmelte Maud.
»Was ist?«, fragte Walter, der neben ihr saß.
»Sehen Sie doch«, antwortete Maud. »Alle sind die besten Freunde. Sie haben ihre Differenzen ausgeräumt.«
»Das können Sie ihnen doch nicht einfach so ansehen.«
»Doch, das kann ich.«
Der Parlamentspräsident erschien mit seiner altmodischen Perücke, setzte sich auf seinen erhöhten Stuhl und rief den Außenminister auf. Grey erhob sich. Sein hageres Gesicht war bleich und sorgenvoll.
Grey war kein begnadeter Redner. Er drückte sich zwar wortgewandt, aber umständlich aus. Dennoch drängten sich die Abgeordneten auf den Bänken, und die Besucher auf der überfüllten Galerie lauschten in gebanntem Schweigen. Alle warteten geduldig auf den Teil der Rede, auf den es ankam.
Der Außenminister sprach eine Dreiviertelstunde lang, ehe er zum ersten Mal Belgien erwähnte. Dann endlich legte er die Einzelheiten des deutschen Ultimatums dar, von dem Walter vor einer Stunde erzählt hatte. Die Abgeordneten waren wie elektrisiert. Maud bemerkte sofort, dass die Stimmung umschlug, wie sie es befürchtet hatte. Beide Gruppierungen innerhalb der Liberalen Partei – die konservativen Imperialisten und die linken Verteidiger der Rechte kleiner Staaten – zeigten sich empört.
Grey zitierte Gladstone, indem er fragte: »Kann unter den Umständen dieses Falles unser Land, mit Einfluss und Macht ausgestattet, wie es ist, still dabeistehen und Zeuge werden, wie das schlimmste Verbrechen begangen wird, das je die Seiten des Buches der Geschichte befleckt hat, und so zum Beteiligten an der Sünde werden?«
Was für ein Unsinn, dachte Maud. Eine Invasion Belgiens wäre nicht das schlimmste Verbrechen in der Geschichte. Was war mit dem Kanpur-Massaker an englischen Frauen und Kindern, um nur ein Beispiel zu nennen? Oder mit dem Sklavenhandel? Großbritannien mischte sich nicht jedes Mal ein, wenn ein Land überfallen wurde. Zu behaupten, dass solche Untätigkeit das britische Volk zu Mitsündern machte, war absurd.
Doch nur wenige Anwesende sahen die Dinge so wie Maud. Abgeordnete beider Seiten jubelten. Entgeistert starrte Maud auf die Vorderbank der Regierung: Sämtliche Minister, die sich am Vortag noch leidenschaftlich gegen den Krieg gewandt hatten, bekundeten nickend ihre Zustimmung – der junge Herbert Samuel, Lewis »Lulu« Harcout, der Quäker Joseph Pease, Vorsitzender der Friedensgesellschaft, und, was am schlimmsten war, Lloyd George. Dass er Grey unterstützte, konnte nur bedeuten, dass der politische Kampf vorüber war, begriff Maud voller Verzweiflung. Die deutsche Bedrohung Belgiens hatte
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