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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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für mich selbst oder für dein Kind, aber für den Zaren? Nein.«
    Katherina aß die Eier und wischte den Teller mit einer frischen Scheibe Brot sauber. »Sag mal, welche Jungennamen gefallen dir?«
    »Mein Vater hieß Sergej, und mein Großvater Tichon.«
    »Mir gefällt Michail«, sagte Katherina. »Wie der Erzengel.«
    »Ja, der Erzengel. An den denken die meisten Leute. Deshalb ist der Name so beliebt.«
    »Vielleicht sollte ich ihn Lew nennen … oder Grigori.«
    Es würde Grigori sehr gefallen, wenn sein Neffe nach ihm benannt wurde; aber er wollte Katherina nicht bedrängen. »Lew ist ein schöner Name«, sagte er.
    Die Fabriksirene heulte – ein hässliches Geräusch, das im gesamten Narwa-Distrikt zu hören war. Grigori stand auf, denn er musste um sechs Uhr an seinem Arbeitsplatz sein.
    »Ich spüle die Teller«, sagte Katherina, deren Arbeit erst um sieben begann. Grigori küsste sie auf die Wange. Es war ein flüchtiger Kuss; dennoch genoss er die Weichheit ihrer Haut und ihren warmen, schwindelerregenden Duft. Dann setzte er die Kappe auf und ging. Trotz der frühen Stunde war die Sommerluft feucht und drückend. Schon nach wenigen strammen Schritten brach Grigori der Schweiß aus.
    In den beiden Monaten seit Lews Abreise hatten Grigori und Katherina eine seltsame Art der Freundschaft und der gegenseitigen Nähe entwickelt: Sie verließ sich auf ihn, und er kümmerte sich um sie, obwohl beide etwas anderes wollten. Grigori wollte Liebe, keine Freundschaft. Und Katherina wollte Lew, nicht Grigori. Dennoch erfüllte es Grigori, sich um Katherina zu kümmern, die sonst niemanden hatte. Eine enge oder gar langfristige Beziehung war das natürlich nicht, aber derzeit konnte ohnehin niemand langfristig denken. In Grigoris Leben war nur eines unveränderlich: sein Wunsch, aus Russland zu fliehen und einen Weg in das Gelobte Land zu finden, nach Amerika.
    Am Fabriktor hingen neue Mobilmachungsplakate, vor denen sich Gruppen von Männern versammelt hatten. Wer lesen konnte, las den anderen laut vor. Grigori stellte sich neben Isaak, den Kapitän der Werksfußballmannschaft, mit dem er gemeinsam in der Armee gedient hatte. Wie jedes Mal suchte Grigori auch an diesem Morgen ihre Einheit auf den Listen.
    Und heute fand er sie.
    Klar und deutlich stand dort: Narwa-Regiment.
    Er überflog die Liste der Einberufenen und entdeckte seinen Namen.
    Grigori sah ein, dass er sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte. Wie hatte er glauben können, es bliebe ihm erspart, in den Krieg ziehen zu müssen? Er war fünfundzwanzig Jahre alt, gesund und stark, wie geschaffen für einen Soldaten. Natürlich würde er kämpfen.
    Aber was würde mit Katherina geschehen? Und mit ihrem Kind?
    Isaak fluchte laut. Sein Name stand ebenfalls auf der Liste.
    Eine Stimme hinter ihnen sagte: »Kein Grund zur Sorge.«
    Sie drehten sich um und erblickten die lange, dünne Gestalt von Kanin, dem Fertigungsleiter.
    »Kein Grund zur Sorge? Was soll das heißen?«, erwiderte Grigori. »Katherina bekommt ein Kind von meinem Bruder. Wenn ich weg bin, gibt es keinen mehr, der sich um sie kümmert!«
    »Ich war bei dem Mann, der in diesem Distrikt für die Mobilmachung verantwortlich ist«, sagte Kanin. »Er hat mir versprochen, für meine Arbeiter Ausnahmen zu machen. Nur die Unruhestifter müssen zur Armee.«
    Hoffnung keimte in Grigori auf. Das klang zu schön, um wahr zu sein.
    »Und was müssen wir dafür tun?«, wollte Isaak wissen.
    »Ihr geht einfach nicht in die Kaserne, dann passiert gar nichts. Es ist alles geregelt.«
    »Was soll das heißen – geregelt?«, fragte Isaak, den Kanins Antwort nicht zufriedenstellte.
    »Die Armee übergibt der Polizei eine Liste mit den Namen von Männern, die sich nicht gemeldet haben. Dann werden diese Männer von der Polizei eingesammelt. Eure Namen werden nicht auf dieser Liste stehen, und das war’s.«
    Grigori konnte sich denken, wie die Sache gelaufen war: Kanin hatte entweder einen Beamten bestochen oder sich auf andere Weise gefällig gezeigt. »Das ist großartig«, sagte Grigori. »Danke.«
    »Dankt mir nicht«, erwiderte Kanin. »Ich habe es für mich getan – und für Mütterchen Russland. Wir brauchen tüchtige Männer wie euch, um Züge zu bauen. Man darf euch nicht als Kugelfänger benutzen. Dafür reichen dumme Bauern. Die Regierung wird das irgendwann einsehen, und dann werden sie mir dankbar sein.«
    Grigori und Isaak gingen durchs Tor. »Wir sollten Kanin vertrauen«, sagte Grigori. »Was

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