Sturz der Titanen
konnte er nicht allzu weit sehen. Vielleicht versuchte er herauszufinden, ob die Uniformen deutsch oder russisch waren. Reglos wie eine Statue in Sankt Petersburg saß er auf seinem Pferd. Doch das Tier war längst nicht so ruhig wie sein Reiter. Es trat von einem Huf auf den anderen und machte dabei Geräusche, die Grigori beunruhigten.
Vorsichtig knöpfte er sich die Hose zu, nahm sein Gewehr und wich zurück, sorgfältig darauf bedacht, stets einen Baum zwischen sich und dem Deutschen zu haben.
Plötzlich bewegte sich der Mann. Grigori erschrak, denn er glaubte, entdeckt worden zu sein. Aber der Deutsche wendete gekonnt sein Pferd und ritt in Richtung Westen.
Grigori rannte zu Sergeant Iwanow zurück. »Ich habe einen Deutschen gesehen!«, rief er.
»Wo?«
Grigori deutete in den Wald hinein. »Da drüben! Ich habe gepinkelt, und da saß er auf seinem Pferd!«
»Bist du sicher, dass es ein Deutscher war?«
»Er hatte eine Pickelhaube.«
»Was hat er getan?«
»Er hat durch ein Fernglas geschaut.«
»Ein Kundschafter!«, sagte Iwanow. »Hast du ihn abgeknallt?«
Erst da fiel Grigori wieder ein, dass es seine Aufgabe war, deutsche Soldaten zu töten, nicht vor ihnen wegzulaufen. »Ich dachte, ich sollte es Ihnen erst einmal sagen«, erwiderte er verlegen.
»Du Traumtänzer! Was meinst du, warum wir dir ein Gewehr gegeben haben?«, brüllte Iwanow.
Grigori schaute auf die geladene Waffe in seiner Hand und das bösartig aussehende Bajonett an seinem Gürtel. Natürlich hätte er schießen müssen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? »Tut mir leid«, sagte er.
»Wegen deiner Blödheit weiß der Feind jetzt, wo wir sind!«, schimpfte Iwanow.
Grigori fühlte sich zutiefst gedemütigt. Eine solche Situation war während seiner Ausbildung zwar nie durchgespielt worden, aber er hätte es sich eigentlich selbst denken können.
»In welche Richtung ist er davongeritten?«, wollte Iwanow wissen.
Wenigstens diese Frage konnte Grigori beantworten. »Nach Westen.«
Iwanow drehte sich um und ging raschen Schrittes zu Leutnant Tupolew, der rauchend an einem Baum lehnte. Einen Augenblick später warf Tupolew die Zigarette weg und rannte zu Major Bobrow, einem gut aussehenden älteren Offizier mit welligem Silberhaar.
Danach ging alles sehr schnell. Sie hatten keine Artillerie, aber die Maschinengewehrabteilung lud ihre Waffen aus. Die sechshundert Männer des Bataillons verteilten sich auf einer gut neunhundert Meter langen Linie von Nord nach Süd. Ein paar Männer wurden vorausgeschickt. Dann rückte der Rest langsam nach Westen in Richtung der Nachmittagssonne vor, deren Licht durch das Blätterdach fiel.
Wenige Minuten später schlug die erste Granate ein. Mit lautem Kreischen flog sie heran, bohrte sich ein Stück hinter Grigori in den Boden und explodierte mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen, das die Erde erbeben ließ.
»Der verdammte Reiter war Artilleriebeobachter!«, rief Tupolew. »Sie schießen auf die Position, an der wir gelagert haben. Ein Glück, dass wir losmarschiert sind.«
Aber die Deutschen dachten nicht nur praktisch, sondern auch logisch, und erkannten ihren Fehler. Das nächste Geschoss schlug bereits ein kleines Stück vor den anrückenden Russen ein.
Die Männer um Grigori wurden immer nervöser. Ständig schauten sie sich um, hielten die Gewehre schussbereit und waren dermaßen gereizt, dass sie sich bei der kleinsten Provokation mit den wildesten Flüchen bedachten. David starrte ständig nach oben, als könne er heranfliegende Granaten sehen und ihnen so ausweichen. Isaak hatte die gleiche kampfeslustige Miene aufgesetzt wie in Petersburg, wenn es bei einem Fußballspiel hart zur Sache ging. Das Wissen, dass der Feind sein Bestes gab, um sie zu töten, war bedrückend. Grigori fühlte sich, als hätte er soeben eine schreckliche Nachricht bekommen, könne sich aber nicht erinnern, um was es dabei ging. Am liebsten hätte er sich ein Loch gegraben und sich darin versteckt.
Grigori fragte sich, was die Artilleristen sehen konnten. War da irgendwo auf einem Hügel ein Beobachter, der das Gelände mit einem dieser starken deutschen Ferngläser absuchte? Einen einzelnen Mann im Wald konnte man auf diese Weise nicht erspähen – bestimmt aber sechshundert, die sich in Formation zwischen den Bäumen hindurch bewegten.
In jedem Fall schienen die Deutschen zu der Ansicht gelangt zu sein, dass die Entfernung stimmte, denn mit einem Mal erfüllte ein grelles Kreischen die Luft, und mit
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