Sturz der Titanen
Abschied küsste, klammerte sie sich an ihn. »Du bist doch heute Nacht dort?«, fragte sie.
Sie tat ihm leid. Ihre Welt fiel in Trümmer, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Fitz hätte sie gerne unter seine Fittiche genommen und ihr versprochen, sich um sie zu kümmern, aber das konnte er nicht. Er hatte eine schwangere Frau, und wenn Bea sich aufregte, verlor sie vielleicht das Kind. Aber selbst als Junggeselle würde er sich nur der Lächerlichkeit preisgegeben haben, wenn er sich ein französisches Flittchen aufgehalst hätte. Außerdem war Gini nur eine von Millionen Parisern. Jeder hatte Angst, nur die Toten nicht. »Ich tue, was ich kann«, sagte er und löste sich aus ihren Armen.
Sein blauer Cadillac parkte am Straßenrand. An der Motorhaube war ein kleiner Union Jack angebracht. Auf den Straßen waren nur wenige Privatfahrzeuge zu sehen, die meisten mit Stander – gewöhnlich eine Trikolore oder eine Rotkreuzflagge –, der anzeigte, dass sie für wichtige Kriegsaufgaben verwendet wurden.
Um den Wagen von London hierherzubekommen, hatte Fitz rücksichtslos seine Verbindungen ausnutzen und ein kleines Vermögen an Bestechungsgeldern zahlen müssen, aber er war froh, die Mühe auf sich genommen zu haben. Er musste täglich zwischen dem britischen und dem französischen Hauptquartier wechseln, und es war eine große Erleichterung, nicht darauf angewiesen zu sein, täglich von Oberkommandos, die unter Materialknappheit litten, einen Wagen oder ein Pferd zu erbetteln.
Fitz ließ den Motor an und fuhr los. Auf den Pariser Straßen herrschte kaum Verkehr. Selbst die Busse waren requiriert worden und brachten nun Nachschub an die Front. Fitz musste anhalten, als vor ihm eine große Schafherde eine Straße überquerte, vermutlich auf dem Weg zum Ostbahnhof, von wo die Tiere mit dem Zug zu den Feldküchen geschafft wurden.
Ihm fiel eine kleine Menschenmenge auf, die sich vor einem Plakat versammelt hatte, das an der Mauer des Palais Bourbon hing. Fitz hielt an und stieg aus. Auf dem Plakat stand zu lesen:
ARMEEN VON PARIS!
BÜRGER VON PARIS!
Fitz’ Blick schweifte zum unteren Ende der Bekanntmachung. Sie war von Général Galliéni unterzeichnet, dem Militärgouverneur der Stadt. Man hatte Galliéni, einen ruppigen alten Veteranen, aus dem Ruhestand geholt. Er war berüchtigt dafür, dass sich bei seinen Stabsbesprechungen niemand setzen durfte: Er glaubte, im Stehen kämen die Leute schneller zu einer Entscheidung.
Der Text seiner Bekanntmachung war kurz und knapp, wie es typisch für ihn war:
Die Regierung der Republik hat Paris verlassen, um der nationalen Verteidigung neuen Antrieb zu verleihen.
Fitz war entsetzt. Die Regierung war geflohen! In den letzten Tagen hatte es immer wieder Gerüchte gegeben, dass Minister sich nach Bordeaux absetzen wollten, doch die Politiker hatten gezögert und die Hauptstadt nicht im Stich lassen wollen. Jetzt aber waren sie fort. Das ließ nichts Gutes ahnen.
Der Rest der Bekanntmachung war in trotzigem Tonfall gehalten:
Ich wurde mit der Aufgabe betraut, Paris gegen den Angreifer zu verteidigen.
Aha, dachte Fitz, Paris ergibt sich also doch nicht. Die Stadt wird kämpfen. Gut! Das lag gewiss im britischen Interesse. Wenn die französische Hauptstadt schon fallen musste, sollte sich der Feind ihre Eroberung wenigstens teuer erkaufen.
Diese Pflicht werde ich mit aller Kraft erfüllen.
Fitz konnte nicht anders, er musste lächeln. Gott segne die alten Haudegen.
Die Leute ringsum schienen gemischte Gefühle zu haben. Aus manchen Kommentaren sprach Bewunderung. Galliéni sei ein Kämpfer, sagte jemand; er werde nicht zulassen, dass Paris fiel. Andere äußerten sich realistischer. Die Regierung habe sie im Stich gelassen, schimpfte eine Frau; und das bedeute, dass die Deutschen noch heute, spätestens morgen einmarschierten. Ein Mann mit einem Aktenkoffer berichtete, er habe seine Frau und seine Kinder zu seinem Bruder aufs Land geschickt. Eine gut gekleidete Frau sagte, sie bewahre dreißig Kilo getrocknete Bohnen in ihrem Küchenschrank auf.
Fitz fand, dass der britische Beitrag zu den Kriegsanstrengungen der Entente cordiale, zu dem auch er seinen kleinen Teil leistete, soeben noch wichtiger geworden sei.
Erfüllt vom Gefühl drohenden Untergangs fuhr er weiter zum Ritz.
Im Foyer seines Lieblingshotels ging er sofort in eine Telefonzelle, rief die britische Botschaft an und hinterließ für den Fall, dass die Neuigkeit die Rue du Faubourg St. Honoré
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