Sturz der Titanen
oben gekehrt, die Augen weit aufgerissen, und seine Pickelhaube lag neben ihm. Er hatte kurz geschnittenes blondes Haar und schöne grüne Augen. Er konnte durchaus der Mann sein, den Grigori schon früher am Tag gesehen hatte. Sicher war er sich allerdings nicht. Lew hätte es gewusst; er hätte sich an das Pferd erinnert.
Grigori öffnete die Satteltaschen. In einer befanden sich eine Karte und ein Fernglas, in der anderen eine Wurst und ein Stück Schwarzbrot. Grigori, der kurz vor dem Verhungern stand, biss ein Stück Wurst ab. Sie war stark mit Pfeffer, Knoblauch und Kräutern gewürzt. Der Pfeffer ließ Grigoris Wangen glühen, und ihm brach der Schweiß aus. Er kaute schnell, schluckte und stopfte sich dann ein Stück Brot in den Mund. Das Essen war so gut, dass er hätte weinen können. Grigori stand da, lehnte an der Flanke des großen Pferdes und aß, so schnell er konnte, während der Mann, den er erschossen hatte, mit toten grünen Augen zu ihm hinaufstarrte.
»Wir schätzen, Herr General, dass dreißigtausend Russen gefallen sind«, sagte Walter zu Ludendorff. Er versuchte, sich seine Freude nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, aber der deutsche Sieg war überwältigend, und er bekam das Grinsen einfach nicht aus dem Gesicht.
Ludendorff hingegen konnte sich sehr wohl beherrschen. »Gefangene?«
»Nach der letzten Zählung ungefähr zweiundneunzigtausend.«
Das war eine schier unglaublich hohe Zahl, doch Ludendorff nahm sie fast beiläufig zur Kenntnis. »Generale?«
»General Samsonow hat sich erschossen. Wir haben seine Leiche. Martos, Befehlshaber des russischen XV . Korps, wurde gefangen genommen. Außerdem haben wir fünfhundert Geschütze erbeutet.«
»Zusammengefasst«, sagte Ludendorff und hob den Blick, »ist die russische 2. Armee also vernichtet worden. Sie existiert nicht mehr.«
Walter grinste immer breiter. »Jawohl, Herr General.«
Ludendorff erwiderte das Lächeln nicht. Er wedelte mit dem Stück Papier, das er studiert hatte. »Was diese Nachricht hier umso ironischer macht.«
»Herr General?«
»Man schickt uns Verstärkungen.«
Walter war erstaunt. »Was? Bitte, verzeihen Sie, Herr General … Verstärkungen?«
»Ich bin genauso überrascht wie Sie. Drei Korps und eine Kavalleriedivision.«
»Von wo denn?«
»Aus Frankreich, wo wir jeden Mann brauchen, wenn der Schlieffen-Plan gelingen soll.«
Walter erinnerte sich, dass Ludendorff mit seinem gewohnten Eifer und seiner Genauigkeit an den Details des Schlieffen-Plans mitgearbeitet hatte, sodass er exakt wusste, was man in Frankreich brauchte, bis hin zum letzten Mann, zum letzten Pferd und zur letzten Kugel. »Aber warum?«, fragte Walter.
»Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir denken.« Ludendorffs Stimme bekam einen verbitterten Beiklang. »Die Gründe sind politischer Natur. Freifrauen und Gräfinnen haben der Kaiserin in Berlin die Ohren voll gejammert, weil ihre Güter und Besitzungen von den Russen überrannt werden. Und die Oberste Heeresleitung hat dem Druck nachgegeben.«
Walter spürte, wie er errötete. Seine eigene Mutter gehörte zu den Frauen, die Kaiserin Auguste Viktoria bedrängt hatten. Dass diese Frauen sich Sorgen machten und nach Schutz verlangten, war verständlich, aber dass die Armee ihrem Flehen nachgab und damit den Erfolg der gesamten Kriegsstrategie aufs Spiel setzte, war unverzeihlich. »Genau das will die Entente!«, sagte Walter mit aufkeimendem Zorn. »Die Franzosen haben die Russen überredet, mit einer nur teilweise kampfbereiten Armee bei uns einzumarschieren, in der Hoffnung, wir würden in Panik geraten, Truppen an die Ostfront verlegen und somit unsere Kräfte in Frankreich entscheidend schwächen!«
»So ist es. Die Franzosen sind auf der Flucht. Sie sind uns zahlenmäßig unterlegen und geschlagen. Ihre einzige Hoffnung war die, dass wir uns ablenken lassen … und genau dieser Wunsch ist jetzt erfüllt worden.«
»Also haben die Russen trotz unseres großen Sieges im Osten einen entscheidenden strategischen Vorteil für ihre Alliierten im Westen errungen«, sagte Walter.
»Ja«, bestätigte Ludendorff. »So ist es.«
Kapitel 13
September bis Dezember 1914
Fitz erwachte vom Schluchzen einer Frau.
Zuerst glaubte er, es wäre Bea. Dann erinnerte er sich, dass seine Frau in London war und er in Paris. Neben ihm lag keine dreiundzwanzigjährige schwangere Fürstin im Bett, sondern ein neunzehnjähriges französisches Serviermädchen mit dem Gesicht eines Engels.
Fitz
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