Sturz der Titanen
das Interesse an ihr verloren, kaum dass ihre Schwangerschaft sichtbar geworden war. Ein hübsches Mädchen war das eine, eine junge Frau mit Kind etwas ganz anderes.
Zum Glück fand an diesem Abend eine Parteizusammenkunft statt. Ethel war der Unabhängigen Arbeiterpartei, Ortsgruppe Aldgate, kurz nach dem Kauf ihres Hauses beigetreten. Oft fragte sie sich, was ihr Vater davon halten würde. Hätte er sie genauso aus der Partei werfen lassen, wie er sie aus seinem Haus geworfen hatte? Oder wäre er insgeheim stolz auf sie gewesen? Sie würde es wohl nie erfahren.
Als Rednerin des heutigen Abends war die Suffragette Sylvia Pankhurst angekündigt, eine der führenden Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht. Der Krieg hatte die berühmte Familie Pankhurst gespalten. Emmeline, die Mutter, hatte beschlossen, den Feldzug für die Dauer des Krieges zu unterbrechen. Die eine Tochter, Christabel, stand dabei hinter ihr; die andere Tochter jedoch, Sylvia, setzte ihre Arbeit fort. Ethel stand auf Sylvias Seite, denn Frauen wurden im Krieg genauso unterdrückt wie im Frieden, und niemand würde sie gerecht behandeln, wenn sie nicht endlich das Wahlrecht erhielten.
Auf dem Bürgersteig vor dem Haus verabschiedete Ethel sich von den anderen Frauen. Auf den von Gaslicht beleuchteten Straßen wimmelte es von Arbeitern, die auf dem Heimweg waren, von Leuten, die ihr Abendessen nach Hause trugen, und von Nachtschwärmern, die bis zum Morgen durchmachten. Ein Hauch warmer Luft kam aus der offenen Tür des Dog and Duck. Ethel konnte die Frauen verstehen, die den ganzen Abend in Kneipen verbrachten: Sie waren gemütlicher als die meisten Wohnungen, und man hatte nette Gesellschaft und das billige Betäubungsmittel namens Gin.
Neben dem Pub war ein Krämerladen namens Lippmann’s, der jedoch geschlossen hatte: Wegen des deutschen Namens war er von einer Meute fanatischer Patrioten verwüstet worden, und jetzt hatte man die Fenster mit Brettern vernagelt. Ironischerweise gehörte das Geschäft einem Juden aus Glasgow, dessen Sohn bei der Highland Light Infantry diente.
Ethel stieg in einen Bus. Sie musste nur zwei Haltestellen weiter, war aber zum Laufen zu müde.
Das Treffen fand in der Calvary Gospel Hall statt, wo Lady Maud ihre Kinderklinik unterhielt. Ethel war nach Aldgate gekommen, weil es das einzige Viertel Londons war, von dem sie je gehört hatte; Maud hatte es oft erwähnt.
Die Hall wurde von Gasglühstrümpfen an den Wänden fröhlich erhellt, und ein Kohleofen mitten im Raum nahm der Luft die Kälte. Vor einem Tisch und einem Rednerpult standen Reihen aus billigen Klappstühlen. Ethel wurde vom Parteisekretär begrüßt, Bernie Leckwith, einem gutmütigen, gelehrtenhaften, pedantischen Mann. Heute jedoch wirkte er besorgt. »Unsere Rednerin hat abgesagt«, erklärte er.
Ethel war enttäuscht. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie und schaute sich im Raum um. »Hier sind mindestens schon fünfzig Leute.«
»Sie schicken uns eine Ersatzrednerin, aber die ist noch nicht da. Außerdem weiß ich nicht, ob es überhaupt Sinn hat. Die Frau ist nicht mal Parteimitglied.«
»Wer ist es denn?«
»Sie heißt Fitzherbert, Lady Maud Fitzherbert.« Missbilligend fügte Bernie hinzu: »Wenn ich recht verstanden habe, ist ihre Familie mit Kohle reich geworden.«
Ethel lachte. »Kaum zu glauben!«, rief sie. »Ich habe mal für sie gearbeitet.«
»Ist sie eine gute Rednerin?«
»Keine Ahnung.«
Ethel freute sich auf das Wiedersehen. Seit jenem schicksalhaften Dienstag, an dem Maud und Walter von Ulrich in den Stand der Ehe getreten waren und Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte, war sie Fitz’ Schwester nicht mehr begegnet. Ethel besaß noch immer das Kleid, das Walter ihr gekauft hatte. Sorgsam in Seidenpapier gehüllt, hing es in ihrem Schrank. Es war aus zarter rosa Seide; Ethel hatte nie etwas Schöneres besessen. Im Augenblick passte sie natürlich nicht hinein. Außerdem war es viel zu kostbar, um es zu einem Treffen der Arbeiterpartei zu tragen. Den Hut hatte Ethel ebenfalls noch; sie bewahrte ihn in der Originalschachtel aus dem Laden auf der Bond Street auf.
Dankbar, die Füße vom Gewicht ihres schwangeren Körpers entlasten zu können, setzte sie sich und wartete darauf, dass die Versammlung begann. Nie würde sie vergessen, wie sie nach der Trauung mit Walters gut aussehendem Cousin Robert von Ulrich im Ritz gespeist hatte. Als sie ins Restaurant gekommen war, hatten mehrere Frauen sie mit
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