Sturz der Titanen
eröffnet hatte, wo er billige Anzüge für Bankangestellte und Boten der Börsenmakler fertigte. Mannie hatte das Handwerk von seinem Vater gelernt und dann ein ehrgeizigeres Unternehmen eröffnet.
Der Krieg war gut fürs Geschäft. Zwischen August und Weihnachten hatten sich eine Million Männer freiwillig gemeldet, und jeder benötigte eine Uniform. Mannie suchte händeringend Näherinnen. Zum Glück hatte Ethel auf Ty Gwyn den Umgang mit einer Nähmaschine erlernt.
Ethel brauchte den Job. Ihr Haus war zwar bezahlt, und sie bekam Miete von Mildred, aber sie musste für die Zeit nach der Geburt ihres Kindes Geld zurücklegen. Ihre Suche nach Arbeit allerdings war von Enttäuschung und hilfloser Wut geprägt gewesen.
Obwohl den Frauen mittlerweile fast alle Arbeitsstellen offenstanden, konnte von Gleichbehandlung keine Rede sein, wie Ethel schnell hatte erfahren müssen. Jobs, in denen Männer drei oder vier Pfund die Woche verdienten, wurden Frauen für ein Pfund Lohn in der Woche angeboten, und selbst dann noch mussten die Arbeiterinnen sich Feindseligkeiten und Schikanen gefallen lassen. Männliche Fahrgäste in Bussen weigerten sich, einer Schaffnerin ihre Fahrkarte zu zeigen; männliche Schlosser gossen den Frauen Öl in die Werkzeugkästen, und Arbeiterinnen durften die Kneipe neben dem Fabriktor nicht betreten. Noch wütender machte es Ethel, dass die gleichen Männer die gleichen Frauen als faul und nachlässig beschimpften, wenn sie ihre Kinder in Lumpen herumlaufen ließen.
Am Ende hatte Ethel widerwillig einen Job in einer Branche angenommen, die von jeher Frauen beschäftigt hatte, hatte jedoch geschworen, das ungerechte System zu ändern, ehe sie starb.
Ethel rieb sich den Rücken. In einer oder zwei Wochen kam ihr Kind zur Welt, und sie musste jeden Tag damit rechnen, nicht mehr arbeiten zu können. Mit geschwollenem Bauch war das Nähen mühsam; das Schlimmste aber war die Müdigkeit, die sie ständig zu übermannen drohte.
Zwei weitere Frauen kamen durch die Tür. Eine trug einen Verband um eine Hand. Die Näherinnen stachen sich regelmäßig an den Nadeln oder schnitten sich an den scharfen Scheren, mit denen sie die Stoffe zurechtschnitten.
»Hör mal, Mannie«, sagte Ethel zum Chef, »du solltest einen Erste-Hilfe-Kasten hier haben. Verbandszeug, eine Flasche Jod und ein paar andere Sachen in einer Blechdose.«
»Denkst du, ich könnte Geld scheißen?« Das war Mannies Standardantwort auf jede solche Anregung, die von seinen Arbeiterinnen kam.
»Aber du verlierst jedes Mal Geld, wenn eine von uns sich verletzt, bares Geld«, erwiderte Ethel im Tonfall der Vernunft. »Hier sind gerade zwei Frauen fast eine Stunde lang nicht an ihren Maschinen gewesen, weil sie mit Schnittwunden zur Apotheke mussten.«
Die Frau mit dem Verband sagte grinsend: »Außerdem musste ich im Dog and Duck ’nen Schluck trinken, wegen meinen Nerven.«
Mannie entgegnete sarkastisch: »Wahrscheinlich soll ich auch noch ’ne Flasche Gin in den Rotkreuzkasten stellen.«
Ethel ging gar nicht darauf ein. »Ich stell dir eine Liste zusammen und finde heraus, was die Sachen kosten. Dann kannst du es dir noch mal überlegen, hm?«
»Ich verspreche gar nichts«, sagte Mannie. Wenn es um Verpflichtungen ging, war diese Aussage für ihn das Äußerste an Entgegenkommen.
»Also gut.« Ethel wandte sich wieder ihrer Nähmaschine zu.
Stets war sie es, die Mannie um kleine Verbesserungen bei der Arbeit bat oder protestierte, wenn er nachteilige Änderungen einführen wollte, wie etwa, dass die Näherinnen das Schärfen ihrer Scheren selbst bezahlen sollten. Ohne es beabsichtigt zu haben, hatte sie unter den Näherinnen die Rolle übernommen, die ihr Vater in Aberowen unter den Bergleuten spielte.
Draußen vor dem schmutzigen Fenster ging der kurze Nachmittag bereits zu Ende. Die letzten drei Stunden des Arbeitstags fand Ethel jedes Mal am schlimmsten. Ihr Rücken tat weh, und von den Deckenlampen bekam sie Kopfschmerzen.
Doch wenn es Abend wurde, zog es sie keineswegs nach Hause. Der Gedanke, lange Stunden allein verbringen zu müssen, war jedes Mal deprimierend.
Als Ethel nach London gekommen war, hatte sie die Aufmerksamkeit etlicher junger Männer erregt. Sie hatte zwar keinem von ihnen echte Zuneigung entgegengebracht, hatte sich aber ins Lichtspielhaus, ins Varieté, zu Gesangsabenden und in die Wirtschaft einladen lassen; einen hatte sie sogar geküsst, allerdings ohne große Leidenschaft. Außerdem hatten sie alle
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