Sturz der Titanen
teils bösen, teils verächtlichen Blicken gemustert, was in Ethel den Verdacht geweckt hatte, dass man ihr trotz des teuren Kleides ansehen konnte, dass sie aus der Arbeiterschicht kam. Aber das war ihr im Grunde gleichgültig gewesen. Robert hatte Ethel mit scharfzüngigen Bemerkungen über Kleidung und Schmuck der anderen Frauen zum Lachen gebracht, und sie hatte ihm ein wenig über das Leben in einer walisischen Bergarbeiterstadt erzählt, das ihm fremder gewesen zu sein schien als der Alltag der Eskimos.
Wo sie alle jetzt wohl sein mochten? Walter und Robert waren im Krieg, Walter beim deutschen, Robert beim österreichischen Heer, doch Ethel hatte keine Ahnung, ob sie noch lebten. Von Fitz wusste sie auch nicht mehr. Sie vermutete, dass er mit seinen Welsh Rifles in Frankreich war, konnte sich aber nicht sicher sein. Jedes Mal las sie die Verlustliste in der Zeitung und suchte voller Angst nach dem Namen Fitzherbert. Sie hasste Fitz dafür, wie er sie behandelt hatte; dennoch empfand sie stets tiefe Dankbarkeit, wenn sein Name nicht auf der Liste stand.
Sie hätte Verbindung mit Maud halten können, indem sie die Mittwochsklinik besuchte, aber wie hätte sie ihr Erscheinen erklären sollen? Ihr fehlte nichts; nur im Juli hatte sie sich einmal über Blutflecken in ihrer Unterwäsche erschreckt, aber Dr. Greenward hatte ihr versichert, dass sie sich deswegen keine Sorgen zu machen brauchte.
Wenigstens hatte Maud sich in dem halben Jahr nicht verändert. Als sie hereinkam, war sie so spektakulär gekleidet wie immer und trug einen riesigen breitkrempigen Hut mit einer langen Feder, die aus dem Hutband ragte wie der Mast einer Jacht. Plötzlich kam Ethel sich in ihrem alten braunen Straßenmantel so abgerissen vor wie eine Bettlerin.
Maud entdeckte sie und kam herüber. »Hallo, Williams! Entschuldigung, ich wollte sagen, Ethel. Was für eine erfreuliche Überraschung!«
Ethel schüttelte ihr die Hand. »Sie werden entschuldigen, wenn ich nicht aufstehe«, sagte sie und klopfte sich leicht auf den geschwollenen Bauch. »Im Augenblick könnte ich nicht mal für den König aufstehen.«
»Bleiben Sie schön sitzen«, erwiderte Maud. »Sagen Sie, könnten wir uns nach der Versammlung ein paar Minuten unterhalten?«
»Natürlich, sehr gern.«
Maud ging an den Tisch, und Bernie eröffnete die Versammlung. Wie viele Einwohner des Londoner Eastends war er russischer Jude. Tatsächlich waren nur wenige Eastender Briten, und von denen waren ein großer Teil Waliser, Schotten und Iren. Vor dem Krieg hatten hier viele Deutsche gelebt; nun wimmelte das Eastend von belgischen Flüchtlingen. Im Eastend kamen sie von Bord der Schiffe; deshalb siedelten sie sich dort auch an.
Obwohl sie einen besonderen Gast hatten, bestand Bernie darauf, zunächst die Entschuldigungen für Abwesenheit abzuarbeiten, das Protokoll der letzten Versammlung zu verlesen und andere ermüdende Routineangelegenheiten zu erledigen. Er arbeitete in der Bibliotheksabteilung der Stadtteilverwaltung und besaß von daher einen ausgeprägten Ordnungssinn.
Nachdem er Maud vorgestellt hatte, begann diese ihren Vortrag. Sie redete selbstbewusst und kenntnisreich über die Unterdrückung der Frau. »Frauen und Männer sollten für die gleiche Arbeit auch die gleiche Bezahlung erhalten«, sagte sie. »Doch uns Frauen wird immer wieder gesagt, ein Mann müsse mehr verdienen, weil er eine Familie zu ernähren habe.«
Mehrere Männer im Publikum nickten nachdrücklich: Genau das sagten sie immer.
»Aber was ist dann mit einer Frau , die eine Familie zu versorgen hat?«
Unter den Frauen erhob sich zustimmendes Gemurmel.
»Letzte Woche habe ich in Acton eine junge Frau kennengelernt, die von zwei Pfund in der Woche ihre fünf Kinder zu ernähren und zu kleiden versucht, während ihr Mann, der sie sitzen gelassen hat, beim Schiffsschraubenbau in Tottenham vier Pfund zehn Shilling verdient und sein ganzes Geld in der Kneipe lässt!«
»Ja, so ist das!«, rief eine Frau hinter Ethel.
»Und erst neulich habe ich mit einer Frau aus Bermondsey gesprochen, deren Mann bei Ypern gefallen ist. Sie muss vier Kinder großziehen, erhält aber nur einen Frauenlohn.«
»Eine Schande!«, riefen mehrere Damen.
»Wenn ein Fabrikbesitzer einem Mann für das Drehen von Kolbenbolzen einen Shilling pro Stück zahlen kann, dann kann er einer Frau doch das Gleiche zahlen.«
Die Männer ruckten unruhig auf ihren Stühlen.
Maud ließ einen stählernen Blick über die Zuhörer
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