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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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auf, zog Handschuhe und einen leichten Sommermantel an, verließ das Haus und stieg in den Bus nach Aldgate.
    Sie fuhr allein. Seit Kriegsausbruch nahm man es mit den Aufsichtsregeln nicht mehr so genau; es war kein Skandal mehr, als unverheiratete Frau tagsüber ohne Begleitung unterwegs zu sein. Tante Herm missbilligte dies, konnte Maud aber schwerlich einsperren, noch konnte sie sich an Fitz wenden, der in Frankreich war. Daher musste sie die Situation zähneknirschend akzeptieren.
    Maud war Redakteurin von The Soldier’s Wife , einer Zeitung mit kleiner Auflage, die sich für eine bessere Behandlung der Angehörigen von Feldsoldaten einsetzte. Ein konservativer Parlamentsabgeordneter hatte das Blatt als »schändliche Plage für die Regierung« bezeichnet, ein Zitat, das postwendend im Impressum jeder weiteren Ausgabe groß herausgestellt wurde. Mauds Antrieb in ihrem Feldzug nährte sich von ihrer Empörung über die Unterdrückung der Frau und ihrem Entsetzen über die sinnlosen Gräuel des Krieges. Sie finanzierte die Zeitung aus ihrer schmalen Erbschaft, auf die sie kaum angewiesen war: Fitz zahlte für alles, was sie brauchte.
    Ethel Williams war Geschäftsführerin der Zeitung. Bereitwillig hatte sie die Kleidermanufaktur verlassen, um ihre Rolle in Mauds Feldzug zu übernehmen, für die sie obendrein besser bezahlt wurde. Ethel empfand den gleichen Zorn wie ihre Chefin, doch ihre Begabungen lagen auf anderem Gebiet. Maud erlebte die Politik gleichsam von oben; auf gesellschaftlichem Parkett begegnete sie führenden Politikern und sprach mit ihnen über aktuelle Probleme. Ethel kannte eine andere politische Welt: die Nationale Gewerkschaft der Kleidermacher, die Unabhängige Arbeiterpartei, Streiks, Aussperrungen und Straßenmärsche.
    Wie verabredet trafen Maud und Ethel sich vor der Zweigstelle der Soldiers’ and Sailors’ Families Association in Aldgate. Vor dem Krieg hatte diese Wohltätigkeitsorganisation, die sich um die Angehörigen von Heeres- und Marinesoldaten kümmerte, wohlhabenden Damen die Gelegenheit verschafft, Soldatenfrauen in Geldnot durch Rat und Tat zu helfen. Mittlerweile hatte die Organisation eine andere, eher verwaltende Funktion. Der Staat zahlte jeder Soldatengattin mit zwei Kindern, die wegen des Krieges von ihrem Mann getrennt war, ein Pfund und einen Shilling die Woche. Das war nicht viel – ungefähr die Hälfte von dem, was ein Bergmann verdiente –, aber es reichte, um Millionen Frauen und Kinder vor schrecklicher Armut zu bewahren. Die Soldiers’ and Sailors’ Families Association verwaltete dieses Trennungsgeld.
    Doch das Geld wurde nur an Frauen mit »guter Führung« ausgezahlt; es kam vor, dass die wohltätigen Damen keinen Penny herausrückten, wenn Frauen sich weigerten, ihren Rat zu befolgen, was Kindererziehung, Haushalt, den verderblichen Einfluss von Varietés und ähnlichen Etablissements und den Genuss von Gin betraf.
    Maud teilte zwar die Ansicht, dass die Frauen ohne Gin besser dran wären, aber das gab niemandem das Recht, sie zu einem Leben in Armut zu verdammen. Maud erfasste heißer Zorn bei dem Gedanken, dass Angehörige der Mittelschicht, die ein üppiges Leben führten, sich ein moralisches Urteil über Soldatenfrauen anmaßten und ihnen die Mittel vorenthielten, ihre Kinder zu ernähren. Hätten Frauen das Wahlrecht, würde das Parlament diesen Machtmissbrauch nicht gestatten, davon war Maud überzeugt.
    Bei Ethel standen ein Dutzend Frauen aus der Arbeiterschicht sowie ein Mann, Bernie Leckwith, Sekretär der Unabhängigen Arbeiterpartei in Aldgate, die Mauds Zeitung und ihre Kampagnen unterstützte.
    Als Maud zu der Gruppe auf dem Gehsteig trat, sprach Ethel gerade mit einem jungen Mann, der ein Notizbuch in der Hand hielt. »Das Trennungsgeld ist keine wohltätige Spende«, sagte Ethel. »Soldatenfrauen haben ein Recht auf diese Unterstützung. Müssen Sie als Journalist Ihren Lebenswandel überprüfen lassen, ehe Sie Ihr Gehalt bekommen? Oder fragt man Mr. Asquith, wie viel Madeira er so trinkt, bevor ihm seine Diäten als Parlamentsabgeordneter ausgezahlt werden? Die Frauen haben einen Anspruch auf das Geld, als wäre es ihr Lohn.«
    Ethel hat ihre Stimme gefunden, dachte Maud zufrieden. Sie drückte sich einfach und prägnant aus. Vielleicht hatte sie dieses Talent von ihrem Vater geerbt, dem Prediger.
    Der Journalist musterte Ethel bewundernd. Es sah beinahe so aus, als hätte er sich in sie verguckt. Beinahe entschuldigend sagte er:

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