Sturz der Titanen
eine abschreckend wehrhafte Barriere.
Walter stieg vom Schützenauftritt hinunter und ging über eine lange Holztreppe in einen tief gelegenen Unterstand. Der Nachteil der Stellungen am Hügel war, dass die Schützengräben für die feindliche Artillerie besser einzusehen waren; um diesen Nachteil auszugleichen, waren die Unterstände in diesem Abschnitt tief in den Kreideboden getrieben worden – so tief, dass praktisch nur ein Volltreffer durch die schwersten englischen Granaten etwas ausrichten konnte. In den Unterständen war ausreichend Platz, um während des Trommelfeuers jedem Mann der Grabenbesatzung Schutz zu bieten. Einige Unterstände waren miteinander verbunden, sodass es einen Fluchtweg gab, falls das Trommelfeuer den Eingang verschüttete.
Walter setzte sich auf eine Holzbank und nahm sein Notizbuch hervor. Ein paar Minuten lang trug er in Stichpunkten ein, was er gesehen hatte. Sein Bericht würde andere Aufklärungsbefunde bestätigen. Agenten hatten gewarnt, es stehe etwas bevor, was die Engländer einen »großen Durchbruch« nannten.
Durch das Labyrinth von Laufgräben begab Walter sich nach hinten. Es gab drei Linien von Schützengräben, jeweils zwei bis drei Kilometer voneinander getrennt; wurde man aus der ersten Linie gedrängt, konnte man in die zweite zurückweichen, und notfalls in die dritte. Was immer auch geschieht, dachte Walter voller Genugtuung, einen schnellen Sieg gibt es für die Engländer nicht.
Er erreichte sein Pferd und ritt zum Hauptquartier der 2. Armee, das er um die Mittagszeit erreichte. Im Offizierskasino begegnete er zu seiner Überraschung seinem Vater, der als Generalmajor im Generalstab diente und nun von einem Schlachtfeld zum anderen eilte, so, wie er in Friedenszeiten von einer europäischen Hauptstadt zur nächsten gereist war. Sein mönchsartiger Haarkranz war so kurz geschnitten, dass er kahlköpfig aussah, aber er wirkte rege und fröhlich. Der Krieg bekam ihm gut. Er mochte die Anspannung und Eile, die Notwendigkeit rascher Entscheidungen und das Gefühl andauernden Notstands.
Von Maud sprach er nie.
»Was hast du gesehen?«, fragte er Walter.
»In den nächsten Wochen wird es in dieser Region zu einer Großoffensive kommen.«
Otto wiegte skeptisch den Kopf. »Der Somme-Abschnitt ist der am besten verteidigte Teil unserer Front. Wir haben den Höhenvorteil und drei Linien. Man greift seinen Feind an seiner schwächsten Stelle an, nicht an der stärksten – das wissen sogar die Engländer.«
Walter berichtete, was er vorhin beobachtet hatte: die Lastwagen, die Züge und die Fernmelder, die Feldtelefonleitungen legten.
»Das ist bloß eine Ablenkung«, erwiderte Otto. »Würde hier wirklich die Offensive beginnen, würden die Engländer sich viel mehr Mühe geben, ihre Anstrengungen zu verschleiern. Hier wird nur ein Scheinangriff stattfinden, gefolgt von der echten Offensive weiter nördlich, in Flandern.«
Walter entgegnete: »Was glaubt Falkenhayn?« General der Infantrie Erich von Falkenhayn war seit fast zwei Jahren Chef des Generalstabs.
Sein Vater lächelte.
»Er glaubt, was ich ihm sage.«
Als nach dem Mittagessen Kaffee serviert wurde, wandte Maud sich an Lady Hermia: »Tante, wüsstest du, wie du im Notfall Fitz’ Anwalt erreichst?«
Tante Herm blickte sie mit mildem Entsetzen an. »Was sollte ich denn mit einem Anwalt zu schaffen haben, Liebes?«
»Das weiß man nie.« Maud wandte sich dem Butler zu, der soeben die Kaffeekanne auf einen dreifüßigen silbernen Untersetzer stellte. »Grout, seien Sie so gut und bringen Sie mir ein Blatt Papier und einen Stift.« Grout ging hinaus und kehrte mit dem Schreibzeug zurück. Maud schrieb Namen und Adresse des Familienanwalts auf.
»Wozu brauche ich das?«, fragte Tante Herm.
»Könnte sein, dass ich heute Nachmittag festgenommen werde«, sagte Maud vergnügt. »Wenn das geschieht, dann bitte ihn, dass er herkommt und mich aus dem Gefängnis holt.«
»Was?«, rief Tante Herm. »Das kann nicht dein Ernst sein!«
»Ich glaube auch nicht, dass es so weit kommt«, sagte Maud. »Ist nur für alle Fälle …« Sie küsste ihre Tante und verließ das Zimmer.
Tante Herms Haltung machte Maud rasend, aber bei den meisten Frauen war es nicht anders. Allein schon den Namen des Familienanwalts zu kennen galt als undamenhaft, geschweige denn, die Rechte zu kennen, die einem von Gesetzes wegen zustanden. Kein Wunder, dass die Frauen gnadenlos ausgebeutet werden konnten.
Maud setzte sich den Hut
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