Sturz der Titanen
das Liebhaben nennen kann.«
»Die Leute sind manchmal vorschnell, wenn ihr Stolz verletzt wird«, erwiderte Mrs. Griffiths beschwichtigend. »Besonders Männer.«
Ethel stand auf. »Jedenfalls hat es keinen Sinn, die Sache noch länger hinauszuschieben.« Sie hob Lloyd vom Fußboden hoch. »Komm, mein Schatz. Es wird Zeit, dass du deine Großeltern kennenlernst.«
»Viel Glück«, sagte Mrs. Griffiths.
Das Haus der Williams war nur wenige Türen weiter. Ethel hoffte, dass ihr Vater nicht zu Hause wäre. Auf diese Weise bliebe ihr wenigstens ein bisschen Zeit mit ihrer Mutter, die weniger streng war.
Ethel überlegte, ob sie anklopfen sollte, sagte sich dann aber, dass es albern wäre, und ging direkt ins Haus.
Sie betrat die Küche, in der sie so viel Zeit verbracht hatte. Ihre Eltern waren beide nicht da, aber Gramper döste auf seinem Stuhl. Er schlug die Augen auf, schaute verblüfft drein und sagte dann voller Wärme: »Aber datt is’ ja unsere Eth!«
»Hallo, Gramper.«
Er stand auf und kam zu ihr. Er war noch gebrechlicher geworden: Er musste sich am Tisch festhalten, nur um das kleine Zimmer zu durchqueren. Er küsste sie auf die Wange und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf Lloyd. »Na, wer is’ datt denn?«, fragte er entzückt. »Is’ datt etwa mein erstes Urenkelchen?«
»Das ist Lloyd«, sagte Ethel.
»Schöner Name!«
Lloyd verbarg sein Gesicht an Ethels Schulter. »Er ist schüchtern.«
»Oh, er hat Angst vorm fremden alten Mann mit ’m weißen Schnurrbart. Na, der Racker wird sich schon an den alten Gramper gewöhnen. Setz dich. Erzähl.«
»Wo ist Mam?«
»Zum Coop, Marmelade holen.« Das örtliche Lebensmittelgeschäft war ein Konsumgenossenschaftsladen, der einen Teil seines Gewinns an seine Kunden weitergab. Es gab viele solche Läden in Südwales; trotzdem wusste niemand, wie man Co-op richtig aussprechen sollte. »Is’ gleich wieder da.«
Ethel setzte Lloyd auf den Fußboden. Er begann, das Zimmer zu erkunden, und wankte unsicher von einer Griffmöglichkeit zur nächsten, ein bisschen wie Gramper. Ethel erzählte von ihrer Arbeit als Geschäftsführerin von The Soldier’s Wife: von den Absprachen mit dem Drucker, dem Verteilen der Zeitungsbündel, dem Abholen unverkaufter Exemplare und wie man Leute dazu brachte, Anzeigen zu schalten. Gramper war furchtbar stolz, was seine Enkelin so alles konnte.
Während sie sich unterhielten, löste Gramper seine Uhrkette von der Weste und ließ sie an der Hand baumeln, ohne Lloyd anzuschauen. Der Junge starrte auf die glänzende Kette und griff danach. Gramper ließ ihn gewähren. Schon bald stützte Lloyd sich auf Grampers Knie, wobei er die Taschenuhr neugierig untersuchte.
Ethel fühlte sich in dem alten Haus seltsam fremd. Sie hatte erwartet, es würde angenehm vertraut sein wie ein altes Paar Stiefel, die man viele Jahre lang getragen hatte, aber sie war unsicher und unruhig. Immer wieder blickte sie auf die verblassten Stickereien mit den abgedroschenen Bibelzitaten und fragte sich, wieso ihre Mutter sie seit Jahrzehnten nicht ausgetauscht hatte.
»Hast du etwas von Billy gehört?«, fragte sie Gramper.
»Nee. Du?«
»Nicht, seit er nach Frankreich ist.«
»Wahrscheinlich isser in dieser großen Schlacht an der Somme.«
»O Gott, hoffentlich nicht. Es soll schrecklich sein.«
»Aye, grässlich, wennste den Gerüchten glaubst.«
Und mehr als Gerüchte gab es nicht, denn die Zeitungsberichte blieben absichtlich vage. Doch in den britischen Lazaretten lagen zahlreiche Verwundete, und ihre Berichte über die militärische Unfähigkeit der Führung und blutige Gemetzel waren in aller Munde.
Mam kam ins Zimmer. »Alle standen im Laden herum und redeten, als hätten sie nichts Besseres zu … oh!« Sie verstummte mitten im Satz. »Oh, gütiger Himmel, ist das unsere Eth?« Sie brach in Tränen aus.
Ethel nahm sie in die Arme.
Gramper sagte: »Guck mal, Cara, datt is’ dein Enkelsohn Lloyd.«
Mam wischte sich die Augen und hob den Kleinen hoch. »Ist der schön!«, sagte sie. »Diese Locken! Er sieht genauso aus wie Billy damals.«
Lloyd beäugte Mam furchtsam; dann begann er zu weinen.
Ethel nahm ihn ihrer Mutter ab. »In letzter Zeit ist er ein richtiges Muttersöhnchen«, sagte sie entschuldigend.
»Das ist in dem Alter bei allen so«, erwiderte Mam. »Koste es aus, das ändert sich bald.«
»Wo ist Dah?«, fragte Ethel und versuchte, nicht allzu beklommen zu klingen.
Mam wirkte mit einem Mal angespannt. »Er ist
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