Sturz der Titanen
aber schrecklich trostlos vor. In den ersten einundzwanzig Jahren ihres Lebens war Aberowen ihre Heimat gewesen, aber erst jetzt, nach zwei Jahren in London, fiel ihr die Tristesse dieser Bergarbeiterstadt auf, in der alles grau in grau war – die Häuser, die Straßen, die Bergehalden und die deprimierenden niedrigen Regenwolken, die über den Hügelkamm heranzogen.
Ethel fühlte sich müde, als sie am Nachmittag am Bahnhof aus dem Zug stieg. Ein achtzehn Monate altes Kind auf eine ganztägige Bahnreise mitzunehmen war kein Zuckerschlecken. Lloyd hatte sich zwar gut benommen und die Mitreisenden durch sein Giggeln und sein Lächeln bezaubert, doch er musste im rüttelnden und schwankenden Waggon sein Fläschchen bekommen; in der stinkenden Zugtoilette mussten ihm die Windeln gewechselt werden, und wenn er unleidlich wurde, musste Ethel ihn in den Schlaf singen – alles in einem Abteil, in dem Fremde zuschauten.
Mit Lloyd im Arm und einem kleinen Koffer in der Hand verließ Ethel den Bahnhof und nahm die Steigung der Clive Street in Angriff. Bald schon keuchte sie. London war eben; in Aberowen aber konnte man kaum irgendwohin, ohne eine steile Straße hinauf- oder hinuntersteigen zu müssen.
Ethel wusste nicht, was in Aberowen alles geschehen war, seit sie die Stadt verlassen hatte. Ihre einzige Nachrichtenquelle war Billy gewesen, und Männer taugten einfach nicht zum Klatsch und Tratsch. Ohne Zweifel war sie selbst eine Zeit lang das Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Aber es mussten sich in den letzten zwei Jahren noch weitere, neue Skandale zugetragen haben.
Ethels Rückkehr war jedenfalls die Neuigkeit des Tages. Viele Frauen starrten sie mit unverhohlener Neugier an, als sie mit Lloyd über die Straßen ging. Sie wusste, was die Frauen dachten: Ethel Williams, die sich stets für etwas Besseres gehalten hatte, kam in einem alten braunen Kleid nach Aberowen zurück, ein Kind an der Hand, aber keinen Mann. Hochmut kommt vor dem Fall, würden sie später sagen und ihre Häme notdürftig als Mitgefühl kaschieren.
Ethel ging zur Wellington Row, aber nicht zum Haus ihrer Eltern. Schließlich hatte Dah ihr befohlen, sich nie mehr zu Hause blicken zu lassen. Ethel hatte an Tommy Griffiths’ Mutter geschrieben, die wegen der hitzigen politischen Äußerungen ihres Mannes »Mrs. Griffiths Socialist« genannt wurde. (Auf der gleichen Straße wohnte auch eine »Mrs. Griffiths Church«.) Die Griffiths waren keine Kirchgänger und missbilligten die harte religiöse Linie, die Ethels Vater vertrat. Ethel hatte Tommy damals über Nacht in London bei sich aufgenommen, und Mrs. Griffiths revanchierte sich gern. Tommy war ihr einziges überlebendes Kind; deshalb hatte sie ein Bett frei, solange er bei der Army war.
Dah und Mam wussten nicht, dass Ethel kam.
Mrs. Griffiths hieß Ethel willkommen und war hellauf begeistert von Lloyd. Sie hatte eine Tochter gehabt, die heute in Ethels Alter gewesen wäre und die an Keuchhusten gestorben war. Ethel konnte sich noch an sie erinnern: ein blondes Mädchen namens Gwenny.
Ethel fütterte Lloyd und wechselte ihm die Windeln; dann setzte sie sich auf eine Tasse Tee zu Mrs. Griffiths in die Küche. Mrs. Griffiths bemerkte ihren Ehering. »Also doch verheiratet?«, fragte sie.
»Verwitwet«, sagte Ethel. »Er ist bei Ypern gefallen.«
»Ach, wie schade.«
»Er war ein Mr. Williams, deshalb konnte ich meinen Namen behalten.«
Die Geschichte würde sich in der Stadt verbreiten. Einige Leute würden anzweifeln, ob es tatsächlich einen Mr. Williams gegeben hatte und ob er wirklich Ethels Ehemann gewesen war. Aber es spielte keine Rolle, ob man ihr glaubte. Eine Frau, die vorgab, verheiratet zu sein, war akzeptabel; nur eine Mutter, die eingestand, unverheiratet zu sein, galt als schamlose Dirne. Die Leute von Aberowen hatten ihre Prinzipien.
»Wann willst du zu deiner Mam?«, fragte Mrs. Griffiths.
Ethel hatte keine Ahnung, wie ihre Eltern reagieren würden. Vielleicht wurde sie auf der Stelle davongejagt; vielleicht verziehen sie ihr alles; vielleicht fanden sie eine Möglichkeit, zwar ihre Sünde zu verdammen, ihr selbst aber zu verzeihen. »Ich weiß es nicht«, sagte Ethel. »Ich bin schrecklich nervös.«
Mrs. Griffiths musterte sie mitfühlend. »Es stimmt schon, dein Dah kann ein richtiger Tatar sein. Trotzdem hat er dich lieb.«
»Das sagen die Leute immer. Dein Vater hat dich lieb, sagen sie. Aber wenn er mich aus dem Haus wirft, weiß ich wirklich nicht, wie man
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