Sturz der Titanen
zu ’ner Gewerkschaftsversammlung nach Caerphilly.« Sie schaute auf die Uhr. »Er müsste jeden Augenblick zum Tee kommen, wenn er den Zug nicht verpasst hat.«
Ethel durchschaute ihre Mutter: Sie hoffte, dass Dah später käme. Insgeheim wünschte Ethel sich das auch. Sie wollte mehr Zeit mit ihrer Mutter verbringen, ehe es zur Konfrontation kam.
Mam setzte Tee auf und stellte einen Teller mit gezuckerten walisischen Keksen auf den Tisch. Ethel nahm einen. »Die habe ich seit zwei Jahren nicht gegessen«, sagte sie. »Lecker.«
Gramper sagte fröhlich: »Nee, watt is’ datt schön! Jetzt hab ich meine Tochter, meine Enkelin und mein’ Urenkel alle im gleichen Zimmer um mich rum. Kann ’n Mann vom Leben mehr verlangen?« Er nahm sich einen Keks.
Ethel musste daran denken, dass manche Leute nichts von dem Leben halten würden, das Gramper führte – den ganzen Tag in seinem einzigen Anzug in einer verqualmten Küche sitzen. Doch er war dankbar für sein Los, und wenigstens heute war er ein glücklicher Mann.
Dann kam Dah.
Mam war gerade mitten im Satz: »Einmal, ich war in deinem Alter, hatte ich auch die Gelegenheit, nach London zu gehen, aber dein Gramper sagte …«
Die Tür ging auf, und sie verstummte. Dah kam von der Straße herein. Er trug den Anzug, den er immer zu Versammlungen anzog, und eine flache Bergmannsmütze. Vom Weg die Steigung hinauf schwitzte er. Er machte einen Schritt ins Zimmer, blieb stehen und erstarrte.
»Guck mal, wer da ist«, sagte Mam gezwungen fröhlich. »Ethel und dein Enkelsohn.« Ihr Gesicht war weiß vor Anspannung.
Dah sagte kein Wort. Er nahm nicht die Mütze ab.
Ethel sagte: »Tag, Dah. Das ist Lloyd.«
Er blickte sie nicht an.
Gramper sagte: »Der Racker sieht dir ähnlich, Dai-Boy. Der Mund … siehste, was ich mein’?«
Lloyd spürte die Feindseligkeit im Raum und begann zu weinen.
Noch immer sagte Dah kein Wort. Ethel begriff, dass sie einen Fehler begangen hatte, ihn zu überfallen. Doch sie hatte verhindern wollen, dass er ihr untersagte, ins Haus zu kommen. Nun erkannte sie, dass sie ihn durch ihren Überfall in die Defensive gedrängt hatte. Er wirkte wie ein Mann, der mit dem Rücken zur Wand stand. Und Dah in die Ecke zu drängen war immer schon ein Fehler gewesen.
Sein Gesicht nahm einen starrsinnigen Ausdruck an. Er blickte seine Frau an und sagte: »Ich habe keinen Enkel.«
»Ach, komm schon«, sagte Mam mit flehendem Unterton.
Dahs Miene blieb unbewegt. Er rührte sich nicht, versuchte krampfhaft, den Blick auf Ethel zu vermeiden, starrte seine Frau an und sagte kein Wort. Er schien auf irgendetwas zu warten, und Ethel begriff mit einem Mal, dass er sich nicht vom Fleck rühren würde, ehe sie nicht gegangen war. Sie begann zu schluchzen.
»Ach, verdammich«, sagte Gramper.
Ethel nahm Lloyd auf. »Es tut mir leid, Mam«, sagte sie schluchzend. »Ich dachte, vielleicht…« Ihr versagte die Stimme. Lloyd in den Armen, schob sie sich an ihrem Vater vorbei. Er gönnte ihr keinen Blick.
Ethel eilte aus dem Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Am Morgen, nachdem die Männer in die Grube eingefahren und die Kinder zur Schule geschickt worden waren, machten die Frauen ihre gewohnten Arbeiten im Freien: Sie wischten den Gehsteig, fegten die Stufe vor der Haustür oder putzten die Fenster. Einige gingen einkaufen oder machten andere Besorgungen.
Ethel beobachtete die Frauen. Hin und wieder, ging es ihr durch den Kopf, müssen sie die Welt außerhalb ihrer Häuschen sehen, damit sie nicht vergessen, dass sich nicht das ganze Leben innerhalb der vier Wände ihrer Bruchbuden abspielt.
Sie lehnte im Sonnenschein neben der Haustür von Mrs. Griffiths Socialist an der Wand. Überall die Straße hinauf und hinunter hatten die Hausfrauen irgendeinen Grund gefunden, sich an der Sonne aufzuhalten. Lloyd spielte mit einem Ball. Er hatte beobachtet, wie andere Kinder Bälle warfen, und versuchte, es ihnen nachzumachen, aber es gelang ihm nicht; bei ihm war das Zusammenspiel von Schulter und Arm, Handgelenk und Fingern noch unkoordiniert. Er ließ den Ball entweder zu spät los, sodass er keinen Schwung hatte, oder zu früh, sodass er manchmal über seine Schulter nach hinten kullerte. Trotzdem versuchte er es unermüdlich und schien sogar begeistert von sich selbst zu sein.
Es wollte Ethel nicht in den Kopf, wie ihr Vater so einen süßen kleinen Jungen zurückweisen konnte. Lloyd hatte ihm doch nichts getan! Sie selbst war eine Sünderin, das sah
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