Sturz der Titanen
setzte sich aufrecht hin und gab ihr den Mantel. »Zieh dich an.«
Mit banger Stimme sagte sie: »Du kannst das Brot nicht wiederhaben, es ist schon halb gegessen.«
Er schüttelte den Kopf. »Was ist mit euch passiert?«
Die Frau zog den Mantel wieder an und knöpfte ihn zu. »Hast du was zu rauchen?«
Grigori reichte ihr eine Zigarette und zündete auch sich selbst eine an.
Die Frau blies den Rauch aus. »Wir hatten ein Schuhgeschäft – hohe Qualität zu niedrigen Preisen für Kunden aus der Mittelschicht. Mein Mann ist ein guter Kaufmann, und wir hatten unser Auskommen.« Ihre Stimme nahm einen verbitterten Tonfall an. »Aber seit zwei Jahren kauft in dieser Stadt keiner mehr Schuhe, vom Adel abgesehen.«
»Habt ihr denn nichts unternommen?«
»Natürlich.« In ihren Augen flackerte Zorn. »Glaubst du, wir hätten unser Schicksal einfach hingenommen? Mein Mann fand heraus, dass er Soldatenstiefel für die Hälfte der Summe fertigen kann, die von der Armee gezahlt wird. Die kleinen Schumacherbetriebe, die unseren Laden versorgt haben, waren ganz versessen auf neue Aufträge. Also ist mein Mann zum Zentralen Komitee für Kriegsindustrie gegangen.«
»Was ist das?«
»Du warst wohl lange weg, was? Heutzutage wird hier alles von irgendeinem unabhängigen Komitee geregelt, weil die Regierung nichts mehr zustande bringt. Das Zentrale Komitee für Kriegsindustrie versorgt die Armee … jedenfalls war es so, als Poliwanow noch Kriegsminister war.«
»Was ist schiefgegangen?«
»Wir haben den Auftrag bekommen. Mein Mann hat seine Ersparnisse aufgebraucht, um die Schuhmacher zu bezahlen. Aber dann hat der Zar Poliwanow gefeuert.«
»Warum?«
»Poliwanow hat gewählte Arbeitervertreter im Komitee zugelassen. Deshalb hat die Zariza ihn offenbar als Revolutionär betrachtet. Jedenfalls wurde unser Auftrag zurückzogen, und wir waren pleite.«
Grigori schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, nur die Befehlshaber an der Front wären verrückt.«
»Wir haben alles Mögliche versucht, uns über Wasser zu halten. Mein Mann war bereit, jede Arbeit anzunehmen … Kellner, Bahnfahrer, Straßenarbeiter. Aber es wurde niemand mehr eingestellt. Da ist mein Mann vor Sorge krank geworden.«
»Und deshalb bietest du jetzt deinen Körper an.«
»Ich kann das nicht besonders gut, ich weiß. Aber manche Männer sind sehr nett … Männer wie du. Andere dagegen …« Sie schauderte und wandte den Blick ab.
Grigori rauchte seine Zigarette zu Ende und stand auf. »Ich muss los.«
Die Frau erhob sich ebenfalls. »Danke«, sagte sie. »Ich habe es dir zu verdanken, dass ich bis morgen nicht wieder auf die Straße muss.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Grigori einen Kuss auf die Lippen. »Danke, Sergeant.«
Grigori ging hinaus.
Es war kälter geworden. Er eilte durch die Straßen zum Narwa-Distrikt. Die Frau des Ladenbesitzers hatte seine Begierde entfacht, und so meldete sein Verlangen sich wieder, kaum dass er an Katherina dachte. Ihm kam der Gedanke, dass nicht nur er, sondern auch sie körperliche Bedürfnisse hatte. Zwei Jahre waren eine lange Zeit für eine junge Frau, sie ohne Liebe durchzustehen. Katherina war erst dreiundzwanzig. Und sie hatte wenig Grund, Grigori oder Lew treu zu sein. Außerdem war sie sehr verführerisch. Vielleicht war sie heute Abend nicht allein.
Der Gedanke erfüllte Grigori mit Entsetzen.
Er ging an den Gleisen entlang zu seinem alten Haus. Bildete er es sich nur ein, oder war die Straße wirklich noch schäbiger als vor zwei Jahren? Seit seiner Einberufung schien nichts repariert, angestrichen oder auch nur gereinigt worden zu sein. Grigori sah eine Schlange vor der Bäckerei an der Ecke, obwohl der Laden geschlossen war.
Er hatte noch immer seinen Schlüssel. Ängstlich betrat er das Haus und stieg die Treppe hinauf. Hoffentlich ertappte er Katherina nicht mit einem Mann. Mit einem Mal wünschte er sich, er hätte ihr im Voraus eine Nachricht geschickt, um sicherzugehen, sie allein anzutreffen.
Er klopfte an.
»Wer ist da?«
Der Klang ihrer Stimme trieb Grigori beinahe die Tränen in die Augen. »Ein Besucher«, sagte er barsch und öffnete die Tür.
Katherina stand am Ofen. Sie ließ den Topf fallen, den sie in der Hand gehalten hatte, verschüttete die Milch darin und schlug die Hände vor den Mund. Ein leiser Schrei drang über ihre Lippen.
»Ich bin’s nur«, sagte Grigori.
Neben Katherina saß ein kleiner Junge auf dem Boden, einen Blechlöffel in der Hand.
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