Sturz der Titanen
widerstrebend in den Kampf zogen, doch Grigoris Leute hatten noch nie den Befehl erhalten, die eigenen Kameraden anzugreifen. Rat suchend schauten sie zu ihrem Sergeanten.
Azow richtete die Pistole auf Grigori. »Angriff!«, brüllte er. »Erschießt diese Verräter!«
Grigori traf eine Entscheidung. »Los, Männer!«, rief er und rappelte sich auf, kehrte den näher kommenden Russen den Rücken zu und schaute nach rechts und links. »Ihr habt den Herrn Major gehört!« Kaum hatte Grigori geendet, schwang er sein Gewehr herum und zielte auf Azow: Wenn er schon auf die eigenen Leute schießen musste, dann lieber auf einen Offizier als auf einen Soldaten.
Azow starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
Grigori feuerte.
Der erste Schuss traf Azows Pferd, das ins Wanken geriet. Die plötzliche Bewegung rettete Grigori das Leben, denn als Azow nun feuerte, ging die Kugel daneben.
Mit fliegenden Fingern lud Grigori durch und schoss erneut, verfehlte aber das Ziel. Er fluchte. Wenn Azow jetzt zum Schuss kam …
Doch der Major kämpfte noch immer mit seinem Pferd und konnte nicht zielen. Grigori folgte den schnellen Bewegungen mit dem Visier, schoss ein drittes Mal und traf Azow in die Brust. Er beobachtete, wie der Major langsam vom Pferd rutschte. Als der schwere Körper in einer Schlammpfütze landete, verspürte er boshafte Befriedigung.
Das Pferd wankte davon und setzte sich plötzlich wie ein Hund auf die Hinterbeine.
Grigori ging zu Azow. Der Major lag auf dem Rücken im Schlamm und starrte zum Himmel. Er rührte sich nicht, lebte aber noch. Blut strömte rechts aus seiner Brust. Grigori schaute sich um. Die fliehenden Soldaten waren noch zu weit entfernt, als dass sie hätten sehen können, was geschah, und Grigoris eigene Leute waren absolut vertrauenswürdig – er hatte ihnen oft genug das Leben gerettet. Grigori drückte Azow den Gewehrlauf auf die Stirn. »Das ist für all die guten Männer, die du umgebracht hast, du mörderischer Hund«, zischte er, verzog das Gesicht und fletschte die Zähne. »Und für meinen Schneidezahn«, fügte er hinzu und drückte ab.
Azows Körper erschlaffte.
Grigori schaute zu seinen Männern. »Der Major ist nach tapferem Kampf im Feindfeuer gefallen«, sagte er. »Rückzug!«
Die Männer jubelten und rannten los.
Grigori ging zu dem Pferd. Das Tier versuchte aufzustehen, war aber zu schwer verletzt. Grigori drückte ihm die Gewehrmündung hinter das Ohr und feuerte seine letzte Kugel ab. Das Pferd fiel zur Seite und rührte sich nicht mehr.
Grigori empfand mehr Mitleid für das Pferd als für Major Azow.
Dann rannte er seinen fliehenden Männern hinterher.
Nachdem die Brussilow-Offensive sich totgelaufen hatte, wurde Grigori in die Hauptstadt zurückversetzt, die inzwischen in Petrograd umbenannt worden war, da Sankt Petersburg zu deutsch klang. Offenbar wurden im Kampf gestählte Truppen benötigt, um die Familie und die Minister des Zaren vor den wütenden Bürgern zu beschützen. Die Überreste des Bataillons wurden in das 1. Maschinengewehrregiment eingegliedert, und Grigori zog in die Kaserne am Sampsonjewski-Prospekt auf der Wyborger Seite, einer Arbeitergegend mit Fabriken und Elendsvierteln. Das 1. Maschinengewehrregiment wurde gut verpflegt und untergebracht; auf diese Weise wollte man sicherstellen, dass die Männer bereit waren, das verhasste Regime zu verteidigen.
Grigori war froh, zurück zu sein; trotzdem erfüllte ihn die Aussicht, Katherina wiederzubegegnen, mit Unbehagen. Zwar sehnte er sich danach, sie zu sehen, ihre Stimme zu hören und ihr Kind, seinen Neffen, im Arm zu halten. Doch sein Verlangen nach ihr beunruhigte ihn. Ja, sie war seine Ehefrau, aber nur auf dem Papier. In Wahrheit hatte sie sich für Lew entschieden, und ihr Sohn war Lews Kind. Grigori hatte kein Recht, sie zu lieben. Er spielte sogar mit dem Gedanken, ihr gar nicht zu sagen, dass er zurück war. In einer Stadt mit mehr als zwei Millionen Einwohnern war es unwahrscheinlich, dass sie sich zufällig über den Weg liefen. Doch das hätte er nur schwerlich ertragen können.
Am ersten Tag nach seiner Ankunft durfte Grigori die Kaserne nicht verlassen, sosehr es ihn auch schmerzte, dass er nicht zu Katherina durfte. Stattdessen nahmen er und Isaak am Abend Kontakt zu den anderen Bolschewiken in der Kaserne auf. Grigori erklärte sich einverstanden, eine Diskussionsgruppe aufzubauen.
Am nächsten Morgen wurde sein Zug einer Abteilung zugeteilt, die während eines Banketts
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