Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
das prunkvolle Heim von Fürst Andrej bewachen sollte, Grigoris ehemaligem Herrn. Der Fürst lebte in einem rot-gelben Palast am Englischen Ufer der Newa. Gegen Mittag traten die Soldaten auf den Stufen an. Regenwolken verdunkelten die Stadt, doch aus sämtlichen Fenstern des Palasts fiel Licht. Hinter dem Glas, eingerahmt von Samtvorhängen wie eine Bühne im Theater, eilten livrierte Diener mit Tabletts voller Delikatessen, Obst und edlen Getränken umher. Im Foyer spielte ein kleines Orchester; die Musik war bis nach draußen zu hören. Große, funkelnde Automobile fuhren an der Treppe vor; Diener eilten herbei, um den illustren Gästen die Tür zu öffnen. Die Männer trugen Frack und Zylinder, die Frauen Pelz. Auf der anderen Straßenseite sammelte sich eine kleine Zuschauermenge.
    Es war eine vertraute Szene, doch einen Unterschied gab es: Jedes Mal, wenn jemand aus einem Auto stieg, buhten und höhnten die Zuschauer. Früher hätte die Polizei den Mob mit Schlagstöcken binnen einer Minute auseinandergeknüppelt, nun aber gab es keine Polizei, und die Gäste stiegen so rasch wie möglich zwischen den Soldaten hindurch die Stufen hinauf und verschwanden im Innern des Palasts.
    Die Leute hatten jedes Recht, den Adel zu verspotten, der diesen Krieg zu einer solchen Katastrophe hatte werden lassen. Sollte es Ärger geben, würde Grigori sich auf die Seite der Menge schlagen. Auf jeden Fall würde er nicht auf die Zivilisten schießen. Er war überzeugt, dass viele seiner Kameraden ähnlich dachten.
    Wie konnten die Aristokraten in Zeiten wie diesen nur solch verschwenderische Feste feiern? Halb Russland hungerte, und selbst den Soldaten an der Front wurden die Rationen gekürzt. Männer wie Fürst Andrej hätten es verdient, im Bett totgeschlagen zu werden. Grigori hätte nicht gezögert, ihn genauso zu erschießen wie Major Azow.
    Die Wagenprozession endete ohne Zwischenfall. Den Zuschauern wurde langweilig, und sie zogen davon. Grigori verbrachte den Nachmittag damit, in die Gesichter der Frauen zu blicken, die auf der Straße vorbeikamen. Wider besseres Wissen hoffte er, Katherina darunter zu entdecken. Als die Gäste des Fürsten sich schließlich auf den Heimweg machten, war es dunkel und kalt. Niemand stand mehr auf der Straße, und es gab keine Buhrufe und Spottgesänge mehr.
    Anschließend wurden die Soldaten an die Hintertür gerufen, wo sie die Reste des Festmahls bekamen, die die Diener übrig gelassen hatten: Fleisch- und Fischstücke, kaltes Gemüse, halb gegessene Brotlaibe, Äpfel und Birnen. Aus Zeit- und Platzgründen wurden die Speisen auf unappetitliche Weise vermischt: Schinken war mit Fischpâté beschmiert, Obst lag in Bratensoße, und Brot war mit Zigarrenasche eingestaubt. Doch in den Gräben hatten die Männer schon Schlimmeres gegessen, und da ihre letzte Mahlzeit ein Frühstück aus Haferbrei und Pökelfisch gewesen war, langten sie hungrig zu.
    Kein einziges Mal sah Grigori das verhasste Gesicht von Fürst Andrej. Und das war vielleicht auch besser.
    Wieder in der Kaserne gaben sie ihre Waffen ab und bekamen den Abend frei. Grigori freute sich: Endlich hatte er Gelegenheit, Katherina zu besuchen. Er ging zur Hintertür der Kasernenküche und erbettelte sich ein wenig Brot und Fleisch für sie; ein Sergeant hatte gewisse Privilegien. Dann polierte er seine Stiefel und machte sich auf den Weg.
    Wyborg, der Standort der Kaserne, befand sich im Nordosten der Stadt; Katherina wohnte im Südwesten – vorausgesetzt, sie hatte noch Grigoris alte Wohnung in der Nähe der Putilow-Werke.
    Grigori ging über den Sampsonjewski-Prospekt und die Newa ins Stadtzentrum. Ein paar der exquisiten Läden für die Reichen der Stadt waren noch geöffnet, und die Schaufenster erstrahlten in elektrischem Licht; doch viele Geschäfte hatten bereits geschlossen, darunter die einfachen Läden für das gemeine Volk, in denen es nur wenig zu kaufen gab. Im Schaufenster eines Bäckers zum Beispiel stand nur ein schimmeliger Kuchen; auf einem handgeschriebenen Schild stand zu lesen: »Brot erst morgen wieder.«
    Auf dem breiten Newski-Prospekt erinnerte Grigori sich daran, wie er an jenem schicksalhaften Tag im Jahre 1905 mit seiner Mutter hier gewesen war – an dem Tag, als die Soldaten des Zaren Maminka erschossen hatten. Nun war er selbst zaristischer Soldat. Aber er würde niemals auf Frauen und Kinder schießen. Und sollte der Zar so etwas noch einmal befehlen, könnte es ihn und seine Kamarilla Kopf und Kragen

Weitere Kostenlose Bücher