Sturz der Titanen
seinem eigenen Schrei.
Er saß in einem Automobil, einem Mercedes 37/95 Doppel-Phaeton, der in mäßigem Tempo über eine unebene Straße in Schlesien fuhr. Sein Vater saß neben ihm und rauchte eine Zigarre. Früh an diesem Morgen waren sie aus Berlin aufgebrochen, beide in dicke Pelzmäntel gehüllt – es war ein offener Wagen –, und nun waren sie auf dem Weg ins Hauptquartier der Ostfront.
Walters Traum war leicht zu deuten: Die Entente hatte das Friedensangebot, für das er so hart gearbeitet hatte, voller Häme zurückgewiesen. Diese Ablehnung wiederum hatte das deutsche Militär gestärkt, das den uneingeschränkten U -Boot-Krieg fortführen wollte. Jedes Schiff sollte versenkt werden – ob militärisch oder zivil, Passagierschiff oder Frachter, Kriegsteilnehmer oder neutral –, um Großbritannien auszuhungern. Die Politiker wiederum, allen voran der Reichskanzler, fürchteten, dies sei der sichere Weg zur Niederlage, denn es würde die Vereinigten Staaten in den Krieg ziehen, doch die U -Boot-Befürworter trugen bei der Diskussion den Sieg davon. In welche Richtung der Kaiser tendierte, hatte er durch die Ernennung Arthur Zimmermanns zum Außenminister deutlich gemacht.
Und nun träumte Walter, bergab ins Unglück zu rasen. Er war der Ansicht, dass die Vereinigten Staaten die größte Gefahr für Deutschland darstellten. Das Ziel der deutschen Politik hätte darin bestehen müssen, die USA aus dem Krieg herauszuhalten. Sicher, Deutschland wurde durch die Seeblockade der Briten ausgehungert. Aber die Russen konnten nicht mehr lange durchhalten, und wenn sie kapitulierten, würde Deutschland die reichen West- und Südwestgebiete des Russischen Reiches überrennen, mit ihren riesigen Getreidefeldern und unerschöpflichen Ölquellen. Und die gesamte deutsche Armee würde sich auf die Westfront konzentrieren können. Das war ihre einzige Hoffnung.
Aber würde das auch der Kaiser erkennen?
Heute wurde die endgültige Entscheidung getroffen.
Das Licht einer trüben Wintersonne fiel auf ein verschneites Land. So weit weg vom Kampfgeschehen kam Walter sich wie ein Drückeberger vor. »Ich hätte schon vor Wochen an die Front zurückkehren sollen«, sagte er.
»Aber die Heeresleitung will dich offensichtlich in Deutschland sehen«, erwiderte sein Vater. »Man schätzt dich als Nachrichtenspezialisten.«
»In Deutschland gibt es Scharen alter Männer, die diese Arbeit mindestens genauso gut erledigen können wie ich. Hast du etwa deine Beziehungen spielen lassen?«
Otto von Ulrich zuckte mit den Schultern. »Wenn du heiraten und einen Sohn zeugen würdest, könntest du dich versetzen lassen, wohin du willst.«
Walter riss ungläubig die Augen auf. »Du hältst mich in Berlin fest, um mich zu zwingen, Monika von der Helbard zu heiraten?«
»Das liegt nicht in meiner Macht. Aber es könnte sein, dass es in der Obersten Heeresleitung Männer gibt, die ebenfalls die Notwendigkeit sehen, edle Blutlinien zu erhalten.«
Das war hinterhältig, und Walter wollte protestieren, doch in diesem Augenblick bog der Wagen um eine Kurve, fuhr durch einen reich verzierten Torbogen und eine lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt hinauf, an deren Ende ein eindrucksvolles Gebäude stand.
»Schloss Pleß?«, fragte Walter.
»Korrekt.«
»Es ist gewaltig.«
»Dreihundert Zimmer.«
Sie stiegen aus dem Wagen und betraten eine Halle, die in ihrer Größe an einen Bahnhof erinnerte. Die Wände waren mit den Köpfen von Keilern verziert, umrahmt von roter Seide, und eine gewaltige Marmortreppe führte zu den Staatsgemächern im ersten Stock. Walter hatte sein halbes Leben in prachtvollen Gemäuern verbracht, aber dieses Schloss war außergewöhnlich.
Ein Generalmajor trat auf sie zu, und Walter erkannte von Henscher, einen alten Kameraden seines Vaters. »Wenn du dich beeilst, hast du noch Zeit, dich zu waschen und zurechtzumachen«, sagte er mit freundlichem Drängen zu Otto von Ulrich. »Du wirst in vierzig Minuten im Speisesaal erwartet.« Er schaute zu Walter. »Das muss dein Sohn sein.«
Otto sagte: »Er gehört zum Nachrichtendienst.«
Walter salutierte.
»Ich weiß. Ich habe seinen Namen auf die Liste gesetzt.« Der General wandte sich an Walter. »Wenn ich recht informiert bin, kennen Sie Amerika.«
»Ich habe drei Jahre in unserer Botschaft in Washington gearbeitet, Herr General.«
»Gut. Ich war noch nie in den Vereinigten Staaten. Ihr Vater auch nicht. Tatsächlich gilt das für die meisten Männer hier … mit
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