Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
der bemerkenswerten Ausnahme unseres neuen Außenministers.«
    Vor zwanzig Jahren war Zimmermann aus China über die Vereinigten Staaten nach Deutschland zurückgekehrt. Er war mit dem Zug von San Francisco nach New York gefahren; aufgrund dieser Erfahrung galt er als Experte für Amerika. Walter sagte nichts dazu.
    Von Henscher fuhr fort: »Minister Zimmermann hat mich gebeten, Sie beide in einer bestimmten Frage zu konsultieren.« Walter fühlte sich geschmeichelt; zugleich war er verwirrt. Warum wollte der neue Außenminister seine Meinung hören? »Aber dafür haben wir später noch Zeit.« Von Henscher winkte einem Lakaien in altmodischer Livree, der die beiden von Ulrichs zu einem Schlafzimmer führte.
    Eine halbe Stunde später standen sie im Speisesaal, der zu einem Konferenzraum umgebaut worden war. Walter schaute sich um und sah zu seinem maßlosen Erstaunen, dass fast alle Mächtigen Deutschlands versammelt waren, darunter der Reichskanzler, der sechzigjährige Theobald von Bethmann Hollweg, dessen kurz geschnittenes Haar fast weiß geworden war.
    Die meisten hohen Militärs des Reiches saßen an einem langen Tisch. Für niederrangige Offiziere und Beamte, darunter auch Walter, standen harte Stühle an der Wand. Eine Ordonnanz verteilte Kopien eines 200-seitigen Memorandums. Walter schaute sich das Schriftstück über die Schulter seines Vaters hinweg an. Es war eine Auflistung der Tonnagen, die in britischen Häfen ein- und ausliefen, Warentabellen und Frachtraum, der durchschnittliche Kalorienwert britischer Mahlzeiten und sogar eine Berechnung, wie viel Wolle die Briten für einen Damenrock verarbeiteten.
    Die Versammelten warteten zwei Stunden; dann kam Kaiser Wilhelm in den Saal. Er trug eine Generalsuniform. Alle sprangen auf. Seine Majestät sah blass und übellaunig aus. In ein paar Tagen würde er seinen achtundfünfzigsten Geburtstag feiern. Wie immer hielt er seinen verkümmerten linken Arm reglos an der Seite. Es fiel Walter schwer, das Gefühl der Loyalität und des Stolzes wiederzuerwecken, das er als Kind stets empfunden hatte, wenn von Wilhelm II . die Rede gewesen war. Er konnte nicht mehr so tun, als wäre der Kaiser der weise Vater seines Volkes; Wilhelm war zu offensichtlich ein gewöhnlicher Mann, den die Ereignisse überwältigt hatten. Inkompetent, verwirrt und unglücklich, war er ein lebendes Argument gegen die Erbmonarchie.
    Der Kaiser ließ den Blick durch den Raum schweifen und nickte einigen seiner Günstlinge zu, darunter Otto von Ulrich. Dann setzte er sich und winkte Henning von Holtzendorff, dem weißbärtigen Chef des Admiralstabes.
    Der Admiral zitierte aus dem Memorandum die Zahl der U ‑Boote, die die Marine aufbieten konnte, die Schiffstonnage, die die Alliierten zum Überleben brauchten sowie den Zeitaufwand für den Feind, versenkte Schiffe zu ersetzen. »Meinen Berechnungen zufolge können wir sechshunderttausend Tonnen pro Monat versenken«, sagte der Admiral. Das war eine beeindruckende Zahl, die durch entsprechende Informationen gestützt zu werden schien. Doch Walter war skeptisch: Der Admiral schien ihm zu präzise und seiner Sache zu sicher zu sein. Ein Krieg war nicht berechenbar.
    Von Holtzendorff deutete auf ein Dokument, das mit einer Schleife zugebunden war; vermutlich beinhaltete es den kaiserlichen Befehl zum uneingeschränkten U -Boot-Krieg. »Wenn Majestät meinem Plan heute zustimmt, garantiere ich, dass die Alliierten in exakt fünf Monaten kapitulieren werden.« Er setzte sich wieder.
    Der Kaiser schaute zum Kanzler. Walter war sicher, jetzt eine realistischere Einschätzung zu hören. Theobald von Bethmann Hollweg war nun schon seit sieben Jahren Reichskanzler, und im Unterschied zum Herrscher verstand er die Komplexität internationaler Beziehungen.
    Der Kanzler sprach düster von Amerikas Kriegseintritt und den unkalkulierbaren Ressourcen der USA an Männern, Kriegsmaterial und Geld. Als Beleg zitierte er die Meinung jedes Deutschen von Rang, der mit den Vereinigten Staaten vertraut war. Doch zu Walters Enttäuschung wirkte er dabei wie resigniert. Offenbar glaubte von Bethmann Hollweg, dass der Kaiser seine Entscheidung bereits getroffen hatte. Sollte dieser Beschluss nur noch abgesegnet werden? War Deutschland bereits dem Untergang geweiht?
    Während der Reichskanzler sprach, blickte der Kaiser ungeduldig drein, gab hin und wieder einen unwilligen Laut von sich und verzog missbilligend das Gesicht. Von Bethmann Hollweg wurde immer unsicherer.

Weitere Kostenlose Bücher