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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Ironie entging ihr offensichtlich.
    Lew trank einen Schluck Scotch, genoss den Geschmack auf der Zunge und das Brennen in der Kehle.
    Mrs. Vyalov sagte: »Die arme Zariza und ihre Kinder. Was werden sie jetzt tun?«
    »Würde mich nicht wundern, wenn der Mob sie allesamt totschlägt«, sagte Joseph.
    »Die armen Menschen! Was hat der Zar diesen Revolutionären denn nur angetan, dass sie so mit ihm umspringen?«
    »Diese Frage kann ich beantworten«, meldete Lew sich zu Wort. Er wusste, dass er den Mund halten sollte, aber er konnte nicht – besonders nicht mit dem warmen Gefühl des Whiskys im Magen. »Als ich elf war, kam es in der Fabrik, in der meine Mutter gearbeitet hat, zu einem Streik.«
    Mrs. Vyalov schüttelte missbilligend den Kopf. Sie hielt nichts von Streiks.
    »Die Polizei hat die Kinder der Streikenden zusammengetrieben. Ich werde es nie vergessen. Ich hatte furchtbare Angst.«
    »Warum hat die Polizei euch denn zusammengetrieben?«, fragte Mrs. Vyalov.
    »Damit sie uns verprügeln konnte«, sagte Lew. »Auf den Hintern, mit Stöcken, um unseren Eltern eine Lektion zu erteilen.«
    Mrs. Vyalov war kreidebleich geworden. Gewalt gegen Kinder und Tiere war ihr unerträglich.
    »Das haben der Zar und sein Regime mir angetan, Mutter«, sagte Lew und klimperte mit dem Eis in seinem Glas. »Deshalb trinke ich auf die Revolution.«

    »Was meinen Sie, Gus?«, fragte Präsident Wilson. »Sie sind der Einzige hier, der schon einmal in Petrograd gewesen ist. Was wird jetzt geschehen?«
    »Ich hasse es, wie ein Beamter des Außenministeriums zu reden, aber es könnte so oder so ausgehen«, antwortete Gus.
    Der Präsident lachte. Sie befanden sich im Oval Office. Wilson saß hinter seinem Schreibtisch; Gus stand davor. »Kommen Sie«, forderte Wilson ihn auf. »Stellen Sie ruhig mal eine Vermutung an. Werden die Russen sich aus dem Krieg zurückziehen oder nicht? Das ist die wichtigste Frage des Jahres.«
    »Okay. Sämtliche Minister der neuen Regierung gehören unheimlich klingenden Parteien an, die Begriffe wie ›sozialistisch‹ oder ›revolutionär‹ im Namen tragen. In Wahrheit aber sind die Mitglieder dieser Parteien Handwerker und Kaufleute aus der Mittelschicht. Was sie wirklich wollen, ist eine bürgerliche Revolution, die ihnen wirtschaftliche Freiheit verschafft. Das Volk aber will Brot, Frieden und Grund und Boden: Brot für die Fabrikarbeiter, Frieden für die Soldaten und Grund und Boden für die Bauern. Für Männer wie Lwow und Kerenski hat nichts davon wirklich einen Reiz. Um nun Ihre Frage zu beantworten, Mr. President … Ich glaube, Lwows Regierung wird versuchen, die Verhältnisse nach und nach zu ändern. Vor allem werden sie den Krieg weiterführen. Doch die Arbeiter werden nicht zufrieden sein.«
    »Und wer wird am Ende siegen?«
    Gus erinnerte sich an seine Reise nach Sankt Petersburg und an den Mann, der ihnen in den Putilow-Werken das Gießen eines Eisenbahnrades demonstriert hatte. Später hatte Gus diesen Mann wegen eines Mädchens mit einem Cop kämpfen sehen. Den Namen des Mannes hatte er zwar vergessen, aber er sah ihn noch deutlich vor sich: die breiten Schultern, die starken Arme, der verkrüppelte Finger, vor allem die wilden, entschlossenen blauen Augen. »Das russische Volk«, antwortete Gus. »Das russische Volk wird schlussendlich siegen.«

Kapitel 24
    April 1917
    An einem milden Tag am Frühlingsanfang ging Walter mit Monika von der Helbard im Garten des Stadthauses ihrer Eltern in Berlin spazieren. Es war ein prachtvolles Haus, und der Garten war groß. Einst hatte es hier sogar einen Tennispavillon, eine Rasenfläche für Bowling, eine Pferdekoppel und einen Kinderspielplatz mit Schaukel und Rutsche gegeben. Walter konnte sich erinnern, wie er als Kind hierhergekommen war und geglaubt hatte, im Paradies zu sein. Heute gab es hier keine Idylle mehr: Sämtliche Pferde, bis auf die ältesten, waren von der Armee requiriert worden; Hühner scharrten auf den Pflastersteinen der breiten Terrasse; im Tennispavillon mästete Monikas Mutter ein Schwein, und Ziegen grasten auf der Bowlingbahn. Gerüchten zufolge melkte die Freifrau sie höchstpersönlich.
    Allerdings schlugen die alten Bäume gerade aus, die Sonne schien, und Walter trug nur Weste und Hemd. Das Jackett hatte er sich über die Schulter geworfen. Würde seine Mutter ihn so sehen, wäre sie nicht gerade davon angetan, aber sie hielt sich im Haus auf und plauderte mit der Freifrau. Greta, Walters Schwester, war

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