Sturz der Titanen
Nebenzimmer.
Walter zog sein Jackett wieder an und riss sich zusammen. Dann stieg er die Marmortreppe hinauf. Der Salon war im gleichen verhaltenen Stil wie der Rest des Hauses gehalten, mit hellem Holz und blau-grünen Vorhängen. Monikas Eltern hatten einen besseren Geschmack als seine, musste er gestehen.
Seine Mutter schaute ihn an und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. »Wo ist Monika?«, wollte sie in scharfem Tonfall wissen.
Walter hob eine Augenbraue und schaute sie an. Es war so gar nicht ihre Art, eine Frage zu stellen, auf die die Antwort lauten konnte: »Auf der Toilette.« Offensichtlich war sie angespannt. Mit ruhiger Stimme antwortete Walter: »Sie wird sich gleich wieder zu uns gesellen.«
»Sieh dir das mal an«, sagte sein Vater und wedelte mit einem Stück Papier. »Das hat man mir gerade aus Zimmermanns Amt geschickt. Diese russischen Revolutionäre wollen durch Deutschland reisen. Die haben wirklich Nerven!« Er hatte bereits ein paar Gläser Kirschwasser getrunken und war entsprechend aufgedreht.
Walter fragte höflich: »Was für Revolutionäre, Vater?« Es kümmerte ihn nicht wirklich, doch er war froh, das Gespräch weg von Monika lenken zu können.
»Die in Zürich! Martow, Lenin und die ganze Bande. Nach dem Sturz des Zaren herrscht in Russland angeblich Meinungs- und Redefreiheit; deshalb wollen sie wieder nach Hause. Aber sie können nicht dorthin!«
Monikas Vater, Konrad von der Helbard, bemerkte nachdenklich: »Ja, das stimmt. Wenn man aus der Schweiz nach Russland will, muss man wohl oder übel durch Deutschland. Auf jeder anderen Strecke müsste man Frontlinien überqueren. Aber es fahren doch noch Dampfer über die Nordsee von England nach Norwegen und Schweden, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Walter, »aber diese Leute würden es nie riskieren, über England zu reisen. Die Briten haben Trotzki und Bucharin interniert, und in Frankreich oder Italien würde es ihnen sogar noch schlimmer ergehen.«
»Dann sitzen sie fest wie Ratten in der Falle!«, verkündete Otto triumphierend.
Walter fragte: »Was wirst du dem Außenminister raten, Vater?«
»Dass er die Bitte zurückweisen soll, was denn sonst? Wir wollen schließlich nicht, dass dieser Abschaum unser Volk verseucht. Wer weiß, welchen Ärger diese Teufel in Deutschland anzetteln würden.«
»Lenin und Martow …«, murmelte Walter. »Martow gehört zu den Menschewiken, aber Lenin ist Bolschewik.« Der deutsche Nachrichtendienst hatte lebhaftes Interesse an russischen Revolutionären.
Otto sagte: »Bolschewiken, Menschewiken, Sozialisten, Revolutionäre … das ist doch alles dasselbe Pack.«
»Nein, ist es nicht«, widersprach Walter. »Die Bolschewiken sind die härtesten.«
Monikas Mutter erklärte mit Entschiedenheit: »Ein Grund mehr, sie von Deutschland fernzuhalten.«
Walter ignorierte die Bemerkung. »Und wichtiger noch … Die Bolschewiken im Ausland neigen dazu, noch radikaler zu sein als die in Russland. Die Petrograder Bolschewiken unterstützen die Provisorische Regierung von Fürst Lwow, ihre Genossen in Zürich nicht.«
»Woher weißt du so etwas?«, wollte seine Schwester Greta wissen.
Walter wusste es, weil er die Berichte deutscher Spione in der Schweiz gelesen hatte, die die Post der Revolutionäre abgefangen hatten. Doch er antwortete: »Vor ein paar Tagen hat Lenin eine Rede in Zürich gehalten, in der er die Provisorische Regierung abgelehnt hat.«
Otto von Ulrich machte ein abschätziges Geräusch, doch Konrad von der Helbard beugte sich vor. »Was haben Sie im Sinn, junger Mann?«
Walter erklärte: »Indem wir den Bolschewiken die Fahrt durch Deutschland verweigern, schützen wir Russland vor deren subversiven Ideen.«
Seine Mutter schaute verwirrt drein. »Erklär mir das bitte.«
»Ich schlage vor, dass wir diesen gefährlichen Männern helfen, wieder nach Hause zu kommen. Sind sie erst einmal dort, werden sie versuchen, die russische Regierung zu unterminieren und damit deren Kriegstüchtigkeit schwächen. Oder sie reißen die Macht gleich ganz an sich und schließen Frieden mit uns. So oder so – Deutschland kann nur gewinnen.«
Schweigen setzte ein, als alle darüber nachdachten. Dann lachte Otto von Ulrich laut auf und klatschte in die Hände. »Das ist mein Sohn!«, rief er. »Offensichtlich hat er doch etwas von seinem alten Herrn gelernt!«
Meine Liebste,
Zürich ist eine kalte Stadt an einem See,
schrieb Walter,
doch die Sonne scheint auf das Wasser, auf die
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