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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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bewaldeten Hügel um uns her und auf die Alpen in der Ferne. Die Straßen sind schachbrettartig angeordnet, es gibt keine Kurven. Kaum zu glauben, aber die Schweizer sind noch mehr auf Ordnung bedacht als die Deutschen! Ich wünschte, Du wärest hier, geliebte Freundin, so wie ich wünschte, Du wärest überall an meiner Seite!!!
    Die Ausrufezeichen sollten dem Zensor bei der Post den Eindruck vermitteln, der Schreiber sei ein aufgedrehtes junges Mädchen. Obwohl Walter sich in der neutralen Schweiz befand, achtete er noch immer sorgfältig darauf, dass niemand anhand des Briefes Adressat und Absender identifizieren konnte.
    Ich frage mich, ob Du wohl unter der ungewollten Aufmerksamkeit aufdringlicher Junggesellen zu leiden hast. Jemand, der so wunderschön und charmant ist wie Du, kann sich dem wohl schwerlich entziehen. Ich habe das gleiche Problem. Natürlich besitze ich weder Schönheit noch Charme; dennoch macht man auch mir Avancen. Meine Mutter hat einen Ehegatten für mich ausgesucht, einen Busenfreund meiner Schwester, eine Person, die ich schon ewig kenne und mag. Eine Zeit lang war es sehr schwer, und ich fürchte, diese Person hat herausgefunden, dass ich eine Freundschaft hege, die eine Ehe ausschließt. Allerdings glaube ich, dass unser Geheimnis sicher ist.
    Sollte ein Zensor sich die Mühe machen, so weit zu lesen, würde er zu dem Schluss kommen, dass der Brief von einer Lesbierin an eine andere gerichtet war. Zu dem gleichen Schluss würde wohl auch jeder in England gelangen, der den Brief in die Hände bekam. Aber das war egal. Ohne Zweifel wurde Maud, eine Feministin und mit sechsundzwanzig Jahren scheinbar noch unverheiratet, ohnehin entsprechender sexueller Präferenzen verdächtigt.
    In ein paar Tagen werde ich in Stockholm sein, einer weiteren kalten Stadt am Wasser, und Du kannst mir einen Brief ins dortige Grand Hotel schicken.
    Auch Schweden war neutral, weshalb dort auch noch Post aus England einging.
    Ich würde mich unglaublich freuen, von Dir zu hören!!!
    Bis dahin, mein wunderbarer Liebling, erinnere Dich an Deine geliebte
    Waltraud

    Am Freitag, dem 6. April 1917, erklärten die Vereinigten Staaten Deutschland den Krieg.
    Walter hatte damit gerechnet; trotzdem war es ein Schlag für ihn. Amerika war reich, stark und demokratisch – einen schlimmeren Feind konnte Walter sich nicht vorstellen. Nun bestand Deutschlands einzige Hoffnung im Zusammenbruch Russlands. Nur so hätte das Reich die Chance, an der Westfront einen entscheidenden Sieg zu erringen, bevor die Amerikaner auf der Bildfläche erschienen.
    Drei Tage später trafen sich zweiunddreißig russische Revolutionäre im Exil in einem Hotel in Zürich: Männer, Frauen und ein Kind, ein vierjähriger Junge mit Namen Robert. Von dort gingen sie zum Bahnhof, um in einen Zug Richtung Heimat zu steigen.
    Walter hatte schon befürchtet, dass sie nicht gehen würden. Martow, der Menschewikenführer, hatte sich geweigert, Zürich ohne Erlaubnis der Provisorischen Regierung zu verlassen – eine seltsam demütige Haltung für einen Revolutionär. Die Erlaubnis war nicht gekommen, doch Lenin und die Bolschewiken hatten beschlossen, trotzdem zu gehen. Walter war sehr darauf bedacht, dass nichts und niemand die Reise noch verhindern würde, und so begleitete er die Russen zum Bahnhof und stieg mit ihnen in den Zug.
    Das ist also Deutschlands Geheimwaffe, dachte Walter. Zweiunddreißig Unruhestifter und Ausgestoßene, die die russische Regierung stürzen wollen. Gott stehe uns bei!
    Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, war sechsundvierzig Jahre alt. Er war von kleiner, kantiger Gestalt und kleidete sich ordentlich, aber nicht elegant; er war zu beschäftigt, um Zeit auf sein Aussehen zu verschwenden. Lenin war einst rothaarig gewesen, hatte sein Haar aber schon frühzeitig verloren; nun war nur noch ein schmaler Kranz davon übrig. Dazu kam ein sauber geschnittener Spitzbart, rot mit grauen Streifen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er Walter nicht sonderlich beeindruckt. Lenin besaß weder Charme noch Ausstrahlung.
    Walter spielte einen untergeordneten Beamten des Auswärtigen Amts, dessen Aufgabe darin bestand, sich um die praktischen Fragen der Fahrt durch Deutschland zu kümmern. Lenin hatte ihn aufmerksam gemustert. Offensichtlich ahnte der Bolschewikenführer, dass Walter nicht für das Außenministerium, sondern für den Nachrichtendienst tätig war.
    Sie fuhren nach Schaffhausen an die Grenze, wo sie in einen deutschen Zug

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