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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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zum Allrussischen Sowjetkongress warten, der in zehn Tagen zusammenkam.
    Grigori hielt Trotzkis Vorschlag für vernünftig, doch Lenin überraschte ihn mit einem lauten und entschiedenen »Nein!«.
    »Aber wir werden sehr wahrscheinlich die Mehrheit der Abgeordneten stellen«, argumentierte Trotzki, »und …«
    »Wenn der Kongress eine Regierung bildet, wird das zwangsläufig eine Koalition sein!«, unterbrach Lenin ihn wütend. »Und die Bolschewiken, die man in diese Regierung lässt, werden dem zentristischen Flügel angehören. Wer sollte sich so etwas wünschen – außer einem konterrevolutionären Verräter?«
    Trotzki lief angesichts dieser Beleidigung rot an, doch er zog es vor zu schweigen.
    Grigori erkannte, dass Lenin recht hatte. Wie immer hatte er weiter gedacht als alle anderen. In einer Koalitionsregierung würden die Menschewiken als Erstes fordern, einen Gemäßigten an die Spitze der Regierung zu setzen, und das hieß: jeden außer Lenin.
    Mit einem Mal erkannte Grigori, dass Lenin nur auf eine Art Ministerpräsident werden konnte.
    Die Diskussion dauerte bis tief in die Nacht. Schließlich sprachen sich die Delegierten mit zehn gegen zwei Stimmen für einen bewaffneten Aufstand aus.
    Allerdings setzte Lenin sich nicht in allen Punkten durch. Ein genaues Datum wurde nicht festgesetzt.
    Nach dem Treffen wärmte Galina einen Samowar an und brachte Käse, Wurst und Brot für die hungrigen Revolutionäre.

    Als Kind hatte Grigori auf dem Gut von Fürst Andrej einmal den Höhepunkt einer Hirschjagd erlebt. Die Hunde hatten den Hirsch unmittelbar vor dem Dorf gestellt, und alle hatten es sich angeschaut. Die Hunde hatten dem sterbenden Hirsch die Eingeweide herausgerissen, und die Jäger auf ihren Pferden feierten mit einem guten Brandy. Doch selbst da hatte das todgeweihte Tier einen letzten Versuch unternommen, sich zu wehren: Es hatte mit seinem mächtigen Geweih zugestoßen, einen Hund aufgespießt und einem anderen den Leib aufgeschlitzt. Dann war der Hirsch auf die blutdurchtränkte Erde gesunken und hatte die Augen geschlossen.
    Grigori dachte bei sich, dass Ministerpräsident Kerenski, der Führer der Provisorischen Regierung, genau wie dieser Hirsch war: Alle wussten, dass er am Ende war, nur er selbst nicht.
    Als die bittere Winterkälte Petrograd fest im Griff hatte, erreichte die Krise ihren Höhepunkt.
    Das Verteidigungskomitee, das man bereits kurz nach seiner Einsetzung in »Militärrevolutionäres Komitee« umbenannt hatte, wurde von dem charismatischen Trotzki dominiert. Mit seiner großen Nase, der hohen Stirn und den hervortretenden Augen sah Trotzki nicht gerade gut aus, aber er war charmant und konnte überzeugen. Während Lenin tobte und schrie, überzeugte und verführte Trotzki. Trotzdem vermutete Grigori, dass Trotzki genauso hart war wie Lenin; nur konnte er es besser verbergen.
    Am Montag, dem 5. November nach dem neuen Kalender, zwei Tage vor Beginn der Tagung des Allrussischen Sowjetkongresses, besuchte Grigori eine Massenveranstaltung, die das Revolutionäre Militärkomitee für sämtliche Truppen in der Peter-und-Paul-Festung veranstaltete. Die Veranstaltung begann mittags und dauerte den ganzen Nachmittag. Hunderte von Soldaten debattierten auf dem Platz vor der Festung über Politik, während ihre Offiziere hilflos vor Wut schäumten. Dann erschien Trotzki, begleitet von donnerndem Applaus. Nachdem die Männer ihm zugehört hatten, sprachen sie sich dafür aus, den Befehlen des Komitees zu folgen, nicht den Anweisungen der Regierung: Trotzki statt Kerenski.
    Als er sich auf den Heimweg machte, wurde Grigori klar, wie gefährlich die Situation war: Die Regierung konnte unmöglich zulassen, dass jemand anders die Kontrolle über Militäreinheiten übernahm. Die Geschütze der Peter-und-Paul-Festung lagen dem Winterpalast unmittelbar gegenüber, in dem die Provisorische Regierung ihren Hauptsitz hatte. In jedem Fall, überlegte Grigori, würde Kerenski sich nicht einfach geschlagen geben und abdanken.
    Am nächsten Tag kündigte Trotzki Vorsichtsmaßnahmen gegen einen möglichen konterrevolutionären Putsch der Armee an. Er befahl den Roten Garden und den Truppenverbänden, die dem Sowjet treu ergeben waren, die Brücken, Bahnhöfe und Polizeireviere zu besetzen; außerdem das Post- und Telegrafenamt, die Telefonvermittlung und die Staatsbank.
    Grigori war an Trotzkis Seite und verwandelte dessen Befehlsflut in detaillierte Anweisungen für die einzelnen Einheiten.

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