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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Anschließend wurden sie per Pferd, Fahrrad oder Automobil in der ganzen Stadt verteilt. Nach Grigoris Meinung kamen Trotzkis »Vorsichtsmaßnahmen« schon sehr nahe an einen Putsch heran.
    Zu seinem großen Erstaunen, aber auch zu seiner Freude gab es kaum Widerstand.
    Ein Spion berichtete, Ministerpräsident Kerenski habe das Vorparlament – jenes Organ, das so kläglich bei dem Versuch gescheitert war, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen – um ein Vertrauensvotum gebeten. Das Vorparlament hatte sich geweigert, aber das interessierte kaum noch jemanden. Kerenski war am Ende – einer von vielen unfähigen Politikern, die versucht hatten, über Russland zu herrschen, und die dabei gescheitert waren. Nun hockte Kerenski wieder im Winterpalast, wo sein machtloses Kabinett weiterhin so tat, als würde es das Land regieren.
    Lenin versteckte sich in der Wohnung der Genossin Margarita Fofanowa. Aus Furcht, er könne verhaftet werden, hatte das Zentralkomitee ihn angewiesen, sich nicht in der Stadt blicken zu lassen. Grigori war einer der wenigen, die Lenins Aufenthaltsort kannten.
    Um acht Uhr abends traf Margarita im Smolny-Institut mit einem Brief von Lenin ein, in dem er den Bolschewiken befahl, sofort mit dem bewaffneten Aufstand zu beginnen.
    »Was glaubt er eigentlich, was wir hier tun?«, sagte Trotzki gereizt.
    Grigori jedoch teilte Lenins Ansicht: Die Bolschewiken hatten noch nicht wirklich das Heft in die Hand genommen. Sobald der Allrussische Kongress zusammentrat, würde er sämtliche Macht an sich reißen. Das Ergebnis wäre eine weitere Regierung, die auf Kompromissen beruhte.
    Der Kongress sollte um zwei Uhr am nächsten Tag zur ersten Sitzung zusammentreten. Nur Lenin schien die Dringlichkeit der Situation zu verstehen, dachte Grigori verzweifelt. Lenin wurde hier gebraucht, im Zentrum der Ereignisse.
    Grigori beschloss, ihn holen zu gehen.
    Die Nacht war so bitterkalt, dass Grigori den Nordwind sogar durch den Ledermantel seiner Sergeantenuniform spürte. Im Stadtzentrum ging es erschreckend normal zu: Gut gekleidete Angehörige der Mittelschicht kamen aus den Theatern und gingen in die hell erleuchteten Restaurants, während Bettler sie bedrängten und an den Ecken Huren lächelten. Grigori nickte einem Genossen zu, der ein Pamphlet Lenins mit dem Titel »Werden die Bolschewiken die Macht erlangen?« verkaufte. Grigori brauchte die Broschüre nicht. Er kannte bereits die Antwort auf diese Frage.
    Margaritas Wohnung lag am Nordende von Wyborg. Grigori konnte nicht dorthin fahren; er musste befürchten, dabei die Aufmerksamkeit auf Lenins Versteck zu lenken. Also nahm er vom Finnischen Bahnhof aus die Straßenbahn. Die Fahrt war lang. Grigori fragte sich die meiste Zeit, ob Lenin sich weigern würde, mit ihm zu kommen. Doch zu seiner großen Erleichterung musste Lenin nicht lange zugeredet werden.
    »Ich fürchte, ohne dich werden die Genossen den letzten, entscheidenden Schritt nicht tun«, sagte Grigori. Mehr brauchte es nicht.
    Lenin schrieb einen Zettel, damit Margarita nicht auf den Gedanken kam, er sei verhaftet worden:
    Ich bin dorthin gegangen , schrieb er, wohin du immer gewollt hast. Iljitsch.
    Die Parteimitglieder nannten Lenin bei seinem Vatersnamen: Iljitsch.
    Grigori überprüfte seine Pistole, während Lenin die Perücke und eine Arbeitermütze aufsetzte und sich den schäbigen Mantel überwarf. Dann machten sie sich auf den Weg.
    Grigori schaute sich ständig wachsam um. Er hatte Angst, sie könnten auf eine Polizei- oder Armeestreife stoßen, die Lenin erkannte. Er beschloss, sofort zu schießen, damit Lenin gar nicht erst in Gefahr geriet.
    In der Straßenbahn waren sie die einzigen Fahrgäste. Lenin fragte die Schaffnerin, was sie von den neuesten politischen Entwicklungen halte.
    Als sie zu Fuß vom Finnischen Bahnhof in die Stadt gingen, hörten sie Hufgetrappel und suchten Deckung, als ein Trupp Kadetten an ihnen vorüberritt – junge Burschen, die offensichtlich Ärger suchten.
    Um Mitternacht lieferte Grigori seinen Schützling erleichtert im Smolny-Institut ab.
    Lenin ging sofort in Zimmer Nr. 36 und rief das Zentralkomitee der Bolschewiken zusammen. Trotzki berichtete, dass die Rotgardisten inzwischen fast alle Schlüsselstellen der Stadt in der Hand hatten; aber das reichte Lenin nicht. Aus symbolischen Gründen, argumentierte er, müssten die revolutionären Einheiten auch den Winterpalast übernehmen und die Minister der Provisorischen Regierung verhaften. Erst

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