Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
Gruppe Deutscher erkannte, was geschah, und jagte den Franzosen hinterher. Gus sah sie über die Brücke rennen. In der Dämmerung waren sie kaum zu sehen, grau in grau. Plötzlich zuckte ein greller Blitz auf, und die Brücke explodierte. Die Franzosen hatten sie bereits am Morgen zur Sprengung vorbereitet. Menschen flogen durch die Luft, und der nördliche Brückenbogen fiel in sich zusammen.
    Dann kehrte Stille ein.
    Gus legte sich auf einen Strohsack im Hauptquartier und schlief ein wenig; seit fast achtundvierzig Stunden hatte er kein Auge mehr zugetan. Bei Sonnenaufgang wurde er von deutschem Artilleriefeuer geweckt. Müde eilte er von der Nähmaschinenfabrik ans Ufer. Im Licht des Junimorgens sah er, dass die Deutschen inzwischen das gesamte Nordufer besetzt hatten und die amerikanischen Stellungen aus höllisch geringer Distanz unter Feuer nahmen.
    Gus sorgte dafür, dass die Mannschaften, die die ganze Nacht hindurch auf den Beinen gewesen waren, von ausgeruhten Männern abgelöst wurden. Dann ging er von Stellung zu Stellung, wobei er sorgfältig darauf achtete, stets in Deckung zu bleiben. Wo er Mängel sah, gab er den Männer Tipps, die Deckung zu verbessern: Wellblechplatten, um sich vor Splittern zu schützen, oder Schutt, um die Barrikaden aufzustocken. Doch die beste Methode, sich zu schützen, bestand immer noch darin, dem Feind das Leben schwer zu machen. »Macht ihnen die Hölle heiß, Jungs«, sagte Gus.
    Und genau das taten seine Männer. Die Hotchkiss- MG s waren über den Fluss hinweg hocheffektiv; die Stokes-Mörser hingegen erwiesen sich als weniger nützlich: Mit ihrer ballistischen Schussbahn waren sie für den Grabenkrieg gedacht, wo Direktfeuer fast nutzlos war. Die Gewehrgranaten wiederum zeigten auf kurze Distanz eine verheerende Wirkung.
    Beide Seiten droschen aufeinander ein wie brutale Straßenschläger. Der Lärm war ohrenbetäubend. Gebäude brachen zusammen; Männer schrien vor Qual. Blutverschmierte Sanitäter rannten zwischen den Stellungen und dem Verbandplatz hin und her, und Läufer brachten den erschöpften Soldaten Munition und heißen Kaffee.
    Im Laufe des Tages wurde Gus immer deutlicher bewusst, dass er aus irgendeinem Grund keine Angst hatte. Vermutlich lag es daran, dass es einfach zu viel zu tun gab. Einen kurzen Augenblick lang, gegen Mittag, als er in der Nähmaschinenfabrik statt eines Mittagessens einen stark gezuckerten Milchkaffee trank, staunte er darüber, wie fremd er sich selbst geworden war. War das wirklich Gus Dewar, der unter Artilleriebeschuss von Haus zu Haus rannte und seinen Männern zurief, sie sollten den Deutschen die Hölle heißmachen? Dabei hatte er vor Kurzem noch Angst gehabt, beim ersten Anzeichen einer Schlacht die Nerven zu verlieren und das Weite zu suchen. Tatsächlich aber kümmerte ihn seine eigene Sicherheit kaum; dafür war er viel zu sehr mit der Gefahr für seine Männer beschäftigt. Was war passiert? Wie hatte er sich so sehr verändern können?
    Doch diese Gedanken waren wie weggeblasen, als ein Corporal zu ihm gelaufen kam und berichtete, sein Trupp habe den Spezialschlüssel verloren, den man brauchte, um den Lauf eines Hotchkiss- MG s zu wechseln. Gus trank den letzten Schluck Kaffee und rannte los, sich um die Sache zu kümmern.
    Am Abend befiel ihn Traurigkeit. Es dämmerte, und er schaute zufällig aus einem zerborstenen Küchenfenster zu der Stelle am Ufer, wo Chuck Dixon gestorben war. Die Erinnerung an das grauenhafte Bild, wie Chuck in der Masse aus Erde und Dreck verschwunden war, schockierte ihn nicht mehr; in den vergangenen drei Tagen hatte er noch viel mehr Tod und Zerstörung gesehen. Was ihm nun zu schaffen machte, war das schreckliche Wissen, dass er eines Tages mit Chucks Eltern, Albert und Emmeline, über diese furchtbaren Augenblicke würde sprechen müssen … und mit Chucks junger Frau Doris, die so sehr dagegen gewesen war, dass Amerika in den Krieg eintrat, vermutlich, weil sie genau vor dem Angst gehabt hatte, was nun geschehen war. Was sollte Gus ihnen sagen? »Chuck hat tapfer gekämpft.« Chuck hatte überhaupt nicht gekämpft. Er war in der ersten Minute der ersten Schlacht gefallen, ohne einen Schuss abzufeuern. Es hätte nicht das Geringste ausgemacht, wäre er ein Feigling gewesen – das Ergebnis wäre das Gleiche geblieben. Sein Leben war sinnlos verschwendet worden.
    Als Gus gedankenverloren auf die schicksalhafte Stelle schaute, erregte eine Bewegung auf der Eisenbahnbrücke seine

Weitere Kostenlose Bücher