Sturz der Titanen
Tisch. Der Mann ihm gegenüber war der Volkskommissar für Kriegswesen und Marineangelegenheiten. Das hieß, dass er die Rote Armee befehligte. Sein Name war Lew Davidowitsch Bronstein, doch wie die meisten führenden Revolutionäre hatte er einen Kampfnamen angenommen, in seinem Fall Trotzki. Trotzki war vor Kurzem neununddreißig Jahre alt geworden. Nun hielt er das Schicksal Russlands in den Händen.
Die Revolution war ein Jahr alt, und Grigori hatte sich noch nie so große Sorgen um ihren Erfolg gemacht. Der Sturm auf den Winterpalast war ihm wie ein Abschluss erschienen; tatsächlich aber hatte der Kampf damit erst begonnen. Die mächtigsten Regierungen der Welt standen den Bolschewiken feindlich gegenüber. Und der heutige Waffenstillstand bedeutete, dass sie nun ihre volle Aufmerksamkeit auf die Vernichtung der Revolution richten konnten. Und nur die Rote Armee konnte sie davon abhalten.
Viele Soldaten mochten Trotzki nicht, weil sie ihn für einen Aristokraten und Juden hielten. Beides zugleich zu sein war in Russland unmöglich, doch einfache Soldaten dachten nicht logisch. Trotzki war kein Aristokrat. Sein Vater war bloß ein wohlhabender Bauer gewesen, und Trotzki hatte eine ordentliche Erziehung genossen. Doch mit seinen guten Manieren tat er sich keinen Gefallen; außerdem war er dumm genug, mit einem eigenen Koch zu reisen und seinen Stab mit neuen Stiefeln und goldenen Knöpfen zu versorgen. Er sah älter aus, als er war. Sein stark gelocktes Haar war noch immer schwarz, doch sein Gesicht war faltig geworden.
Er hatte Wunder mit der Armee gewirkt.
Die Roten Garden, von denen die Provisorische Regierung gestürzt worden war, hatten sich auf dem Schlachtfeld als längst nicht so effektiv erwiesen. Die Männer waren ständig betrunken und kannten keine Disziplin. Außerdem hatte es sich als armselige Art zu kämpfen erwiesen, jeden Befehl erst per Handzeichen zu bestätigen; das war sogar noch schlimmer, als von adeligen Dilettanten geführt zu werden. So hatten die Roten wichtige Schlachten gegen die Konterrevolutionäre verloren, die sich inzwischen die Weißen nannten.
Trotzki hatte die Wehrpflicht wiedereingeführt, auch wenn das Protestgeschrei groß gewesen war. Außerdem hatte er viele ehemalige zaristische Offiziere rekrutiert, sie in »Spezialisten« umbenannt und auf ihre alten Posten gesetzt. Auch die Todesstrafe für Deserteure hatte er wieder in Kraft gesetzt. Grigori gefielen diese Maßnahmen nicht, aber er verstand die Notwendigkeit. Alles war besser als die Konterrevolution.
Was die Armee zusammenhielt, war ein Kern aus bolschewistischen Parteimitgliedern. Sie waren bewusst auf sämtliche Einheiten verteilt, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Einige waren einfache Soldaten, andere Offiziere, und wieder andere, wie Grigori, waren Politkommissare, die mit den militärischen Führern zusammenarbeiteten und dem Zentralkomitee der Partei in Moskau Bericht erstatteten. Sie hielten die Moral aufrecht, indem sie den Soldaten sagten, sie würden für die größte Sache in der Geschichte der Menschheit kämpfen. Wenn die Armee grausam, ja erbarmungslos sein und Pferde und Korn von verzweifelten Bauern requirieren musste, erklärten die Bolschewiken den Soldaten, warum solche Maßnahmen im Interesse des Allgemeinwohls nötig waren. Außerdem meldeten sie die geringsten Anzeichen von Unzufriedenheit, damit man sich darum kümmern konnte, bevor irgendetwas aus dem Ruder lief.
Aber würde das alles reichen?
Grigori und Trotzki hatten sich über eine Landkarte gebeugt. Trotzki deutete auf den Transkaukasus zwischen Russland und Persien. »Die Türken kontrollieren mit deutscher Hilfe noch immer das Kaspische Meer«, sagte er.
»Und damit bedrohen sie die Ölfelder«, murmelte Grigori.
»Denikin ist ein starker Mann in der Ukraine.« Tausende von Aristokraten, Offizieren und Großbürgern, die vor der Revolution geflohen waren, waren in Nowotscherkassk gelandet, wo sie unter dem abtrünnigen General Denikin eine konterrevolutionäre Streitmacht aufgestellt hatten.
»Die sogenannte Freiwilligenarmee«, sagte Grigori.
»Genau.« Trotzkis Finger bewegte sich in Russlands Norden. »Die Briten haben ein Marinegeschwader in Murmansk, und drei amerikanische Infanteriebataillone sind in Archangelsk. Dabei werden sie von fast jedem anderen Land unterstützt: Kanada, China, Polen, Italien, Serbien … Es würde schneller gehen, die Länder aufzuzählen, die keine Truppen im eisigen Norden
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