Sturz der Titanen
Dankbarkeit ist entstanden.« Der Völkerbund sei eine große Familie der Nationen. Gewiss sollten sie einander doch wie Gleichgestellte behandeln?
Gus war besorgt, aber nicht überrascht. Die Japaner sprachen schon seit einer oder zwei Wochen davon. Damit hatten sie Bestürzung bei den Australiern und Kaliforniern hervorgerufen, die die Japaner aus ihren Gebieten fernhalten wollten, und Wilson beunruhigt, der nicht im Traum daran dachte, amerikanische Schwarze als seinesgleichen anzusehen. Vor allem hatte es die Briten empört, die undemokratisch über ihr Empire mit Hunderten von Millionen Menschen unterschiedlicher Rassen regierten und sich dagegen sperrten, dass diese Menschen sich als ihren weißen Herren ebenbürtig betrachteten.
Erneut ergriff Cecil das Wort. »Leider handelt es sich hier um eine höchst kontroverse Angelegenheit«, sagte er bedrückt, und beinahe hätte Gus ihm seine Traurigkeit abgenommen. »Allein der Vorschlag, darüber zu debattieren, hat bereits zu Uneinigkeit geführt.«
Um den Tisch herum erhob sich zustimmendes Murmeln.
Cecil fuhr fort: »Statt die Einigung über einen Vertragsentwurf hinauszuzögern, sollten wir eine Diskussion über … äh, rassische Diskriminierung vielleicht auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.«
Der griechische Premierminister erklärte: »Die Frage der Religionsfreiheit ist insgesamt ein schwieriges Thema. Vielleicht sollten wir es zunächst fallen lassen.«
Der portugiesische Delegierte sagte: »Meine Regierung hat noch nie einen Vertrag unterzeichnet, der sich nicht auf Gott beriefe!«
Cecil, ein tiefgläubiger Mensch, erwiderte: »Vielleicht sollten wir diesmal ein Risiko eingehen.«
Leises Lachen in der Runde. Offenkundig erleichtert erklärte Wilson: »Wenn wir uns darin einig sind, wollen wir fortfahren.«
Am Tag darauf begab Wilson sich zum französischen Außenministerium am Quai d’Orsay und trug auf einer Plenarsitzung der Friedenskonferenz im berühmten Uhrensaal unter den gewaltigen Kronleuchtern, die wie Stalaktiten in einer arktischen Höhle aussahen, den Entwurf vor. Am Abend reiste er ab. Der folgende Tag war ein Sonntag, und am Abend ging Gus tanzen.
Nach Einbruch der Dunkelheit war Paris eine Partystadt. Lebensmittel blieben rar, doch Alkohol schien es genug zu geben. Junge Männer ließen die Türen ihrer Hotelzimmer unverschlossen, damit Rotkreuzschwestern hereinkommen konnten, wann immer sie Gesellschaft brauchten. Die konventionelle Moral schien ausgesetzt worden zu sein. Die Menschen versuchten nicht, ihre Liebesaffären zu verbergen. Weibische Männer warfen jeden Anschein des Maskulinen ab. Das Larue wurde zu dem Restaurant für Lesbierinnen. Man sagte, die Kohleknappheit sei ein Mythos, von den Franzosen erfunden, damit jeder sich nachts warm hielt, indem er mit seinen Freunden schlief.
Alles war teuer, aber Gus hatte Geld. Er genoss noch weitere Vorteile: Er kannte Paris und sprach Französisch. Er ging zu den Rennen in Saint-Cloud, schaute sich »La Bohème« in der Oper an und besuchte ein gewagtes Musical namens »Phi Phi«. Da er aus dem Dunstkreis des amerikanischen Präsidenten kam, wurde er auf jede Party eingeladen.
Er stellte fest, dass er immer mehr Zeit mit Rosa Hellman verbrachte. Wenn er mit ihr sprach, musste er darauf achten, ihr nur Dinge zu sagen, bei denen er damit leben konnte, sie gedruckt zu sehen, doch die Diskretion war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Rosa war einer der klügsten Menschen, mit denen er je gesprochen hatte. Er mochte sie, aber weiter ging es nicht. Sie war immer bereit, mit ihm auszugehen – aber welcher Reporter hätte die Einladung eines Assistenten des US -Präsidenten ausgeschlagen? Gus durfte niemals Rosas Hand nehmen und ihr einen Gutenachtkuss geben, weil sie dann auf den Gedanken kommen könnte, er wollte seine Position ausnutzen; schließlich konnte sie es sich nicht leisten, ihn zu verärgern.
Er verabredete sich mit ihr auf einen Cocktail ins Ritz. »Was ist ein Cocktail?«, fragte sie.
»Starker Alkohol mit irgendetwas gemischt, damit er respektabler erscheint. Sie sind der letzte Schrei.«
Rosa folgte ebenfalls der Mode. Sie trug einen Ponyschnitt, und ihr Glockenhut bedeckte ihre Ohren wie ein deutscher Stahlhelm. Kurven und Korsette waren völlig aus der Mode, und ihr drapiertes Kleid fiel von den Schultern glatt zu einer beeindruckend niedrigen Taille herunter. Indem es ihre Formen verbarg, regte das Kleid Gus paradoxerweise dazu an, über
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