Sturz der Titanen
den Körper nachzudenken, der sich darunter verbarg. Rosa trug Lippenstift und Rouge, was bei Europäerinnen noch immer als gewagt galt.
Sie tranken einen Martini; dann brachen sie auf zum nächsten Lokal. Als sie durch das Foyer des Ritz gingen, zogen sie die Blicke auf sich: der schlaksige Mann mit dem großen Kopf und seine zierliche einäugige Begleiterin – er im Frack, sie in silberblauer Seide. Sie nahmen ein Taxi zum Majestic, wo die Briten am Samstagabend Tanz veranstalteten und wo sich alles traf.
Der Ballsaal war überfüllt. Junge Assistenten der Delegationen, Journalisten aus der ganzen Welt und aus den Schützengräben befreite Soldaten »jazzten« mit Krankenschwestern und Stenotypistinnen. Rosa zeigte Gus, wie man Foxtrott tanzte; dann ließ sie ihn stehen und tanzte mit einem gut aussehenden, dunkeläugigen Mann aus der griechischen Delegation.
Ein wenig eifersüchtig strich Gus durch den Saal und schwatzte immer wieder kurz mit Bekannten, bis er Lady Maud Fitzherbert begegnete. Sie trug ein purpurnes Kleid und spitze Schuhe. »Hallo!«, rief er überrascht.
Sie schien sich zu freuen, ihn zu sehen. »Sie sehen gut aus.«
»Ich hatte Glück. Ich hab’s in einem Stück überstanden.«
Sie berührte die Narbe an seiner Wange. »Fast.«
»Nur ein Kratzer. Wollen wir tanzen?«
Er nahm sie in die Arme. Sie war abgemagert: Durch das Kleid spürte er ihre Knochen. Sie tanzten einen Schleifer. »Wie geht es Fitz?«, fragte Gus.
»Gut, nehme ich an. Er ist in Russland. Das sollte ich Ihnen wahrscheinlich nicht sagen, aber ist es ja ein offenes Geheimnis.«
»Mir ist aufgefallen, dass in den britischen Zeitungen steht: ›Hände weg von Russland‹.«
»Ja. Dieser Feldzug wird von jemandem geführt, den Sie auf Ty Gwyn kennengelernt haben: Ethel Williams, jetzt Eth Leckwith.«
»Ich kann mich nicht an sie erinnern.«
»Sie war die Haushälterin.«
»Gütiger Himmel!«
»Sie wird zu einer Kraft in der britischen Politik.«
»Wie die Welt sich verändert hat.«
Maud zog ihn näher an sich und senkte die Stimme. »Ich nehme an, Sie haben Neuigkeiten über Walter, oder?«
Gus erinnerte sich an den deutschen Offizier, der ihm bekannt vorgekommen war und den er bei Château-Thierry hatte fallen sehen; aber er war nicht sicher, dass es sich tatsächlich um Walter von Ulrich gehandelt hatte, deshalb antwortete er: »Nein, es tut mir leid. Es muss sehr schwer für Sie sein.«
»Es kommen keine Nachrichten aus Deutschland heraus, und dorthin reisen darf man nicht.«
»Ja. Ich fürchte, da müssen Sie warten, bis der Friedensvertrag unterzeichnet ist.«
»Und wann wird das sein?«
Gus wusste es nicht. »Der Völkerbundvertrag ist mehr oder weniger fertig, aber es wird noch dauern, bis man sich darüber einig ist, wie viel Deutschland an Reparationen zahlen soll.«
»Das ist so dumm!«, sagte Maud voller Bitterkeit. »Wir brauchen ein wohlhabendes Deutschland, damit die Briten Automobile und Herde und Staubsauger dorthin verkaufen können. Wenn wir die deutsche Wirtschaft vernichten, wird Deutschland bolschewistisch.«
»Die Menschen wollen Rache.«
»Erinnern Sie sich noch an 1914? Walter wollte keinen Krieg. Das Gleiche galt für die Mehrheit der Deutschen. Aber das Land war keine Demokratie. Die Generäle haben den Kaiser aufgehetzt. Und als Russland mobilgemacht hatte, blieb Deutschland keine andere Wahl.«
»Natürlich weiß ich das noch. Aber die meisten Leute haben es vergessen.«
Der Tanz ging zu Ende. Rosa Hellman kehrte zurück, und Gus stellte die beiden Frauen einander vor. Sie redeten ein paar Worte miteinander, aber Rosa war ungewöhnlich einsilbig, und Maud ging weiter.
»Das Kleid hat ein Vermögen gekostet«, sagte Rosa, noch immer verstimmt. »Es ist von Jeanne Lanvin.«
Gus war erstaunt. »Du magst Maud nicht?«
» Du magst sie offenbar sehr.«
»Was soll das heißen?«
»Ihr habt sehr eng getanzt.«
Rosa wusste nichts über Walter. Dennoch fühlte sich Gus zu Unrecht des Flirtens bezichtigt. »Sie wollte mit mir über etwas Vertrauliches reden«, sagte er mit leisem Unwillen.
»Das glaube ich gerne.«
»Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst«, sagte Gus. »Du bist schließlich mit diesem öligen Griechen davongezogen.«
»Er sieht sehr gut aus und ist kein bisschen ölig. Warum sollte ich nicht mit anderen Männern tanzen? Es ist ja nicht so, als wärst du in mich verliebt.«
Gus starrte sie an. »Oh«, sagte er. »Ach du je.« Plötzlich war er verwirrt
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