Sturz der Titanen
Amnestie für Deserteure. Für sieben Tage. Jeder, der zurückkommt, wird nicht bestraft.«
»Auch das ist ein politischer Zug.«
»Ich glaube zwar selbst nicht, dass es Deserteure ermutigt. Es ist ja auch nur für eine Woche. Aber es könnte Männer zu uns zurückbringen – besonders, wenn ihnen klar wird, dass die Weißen ihnen ihr Land nehmen wollen.«
»Gut. Versuch es«, sagte Trotzki.
Ein Adjutant kam herein und salutierte. »Wir haben einen seltsamen Bericht bekommen, Genosse Peschkow, den Sie sich mal anhören sollten.«
»Lass hören.«
»Es geht um einen der Gefangenen, die wir in Buguruslan gemacht haben. Er war bei Koltschaks Männern, trug aber eine amerikanische Uniform.«
»Die Weißen haben Soldaten aus der ganzen Welt. Die Imperialisten unterstützen die Konterrevolution. Das ist nicht verwunderlich.«
»Darum geht es nicht, Genosse.«
»Worum denn?«
»Der Mann behauptet, Ihr Bruder zu sein.«
Der Bahnsteig war lang und der Morgennebel dicht, sodass Grigori das Ende des Zuges nicht sehen konnte. Bestimmt ist es ein Irrtum, sagte er sich, eine Namensverwechslung oder ein Übersetzungsfehler. Er bereitete sich auf eine Enttäuschung vor, doch irgendwie wollte es ihm nicht gelingen. Sein Herz schlug immer schneller. Es war nun fast fünf Jahre her, seit er Lew zum letzten Mal gesehen hatte. Oft hatte er gedacht, Lew könnte tot sein – eine schreckliche Vorstellung.
Grigori ging langsam den Bahnsteig hinunter und spähte in den Nebel hinein. Falls es sich bei dem Gefangenen tatsächlich um Lew handelte, würde er sich verändert haben. Grigori hatte in den vergangenen fünf Jahren einen Schneidezahn und ein halbes Ohr verloren und war auch sonst nicht mehr der Gleiche, äußerlich und innerlich.
Meine Güte, wie Lew jetzt wohl aussah?
Augenblicke später schälten sich zwei Gestalten aus dem Nebel: ein russischer Soldat in zerlumpter Uniform und selbst gemachten Filzstiefeln und neben ihm ein Mann, der amerikanisch aussah. War das Lew? Er hatte die Haare auf amerikanische Art kurz geschnitten und trug keinen Schnauzbart. Sein Gesicht war rund und sah gut genährt aus, wie bei allen amerikanischen Soldaten, und seine breiten Schultern steckten in einer schmucken neuen Uniform. Es war eine Offiziersuniform, erkannte Grigori ungläubig. Konnte sein leichtlebiger Bruder es tatsächlich zum amerikanischen Offizier gebracht haben?
Der Gefangene starrte ihn an. Als er näher kam, sah Grigori, dass es sich tatsächlich um Lew handelte. Er sah anders aus, was aber nicht nur an der Aura gepflegten Wohlstands lag, die ihn umgab. Es waren die Art, wie er ging, der Ausdruck auf seinem Gesicht und vor allem der Blick seiner Augen. Er hatte seinen jugendlichen Übermut verloren und strahlte stattdessen Vorsicht aus. Lew war erwachsen geworden.
Als sie auf Armeslänge voneinander entfernt waren, musste Grigori daran denken, wie oft Lew ihn enttäuscht hatte, und eine ganze Flut von Schuldzuweisungen kam ihm in den Sinn, doch er schwieg, breitete die Arme aus und drückte Lew an sich. Sie küssten sich auf die Wangen, klopften sich auf den Rücken und umarmten sich wieder. Grigori liefen die Tränen übers Gesicht.
Nach der Begrüßung führte er Lew in den Waggon, der ihm als Büro diente. Grigori befahl seinem Adjutanten, ihnen Tee zu bringen. Sie nahmen in zwei verblassten Sesseln Platz. »Du bist in der Armee?«, fragte Grigori ungläubig.
»In Amerika besteht Wehrpflicht«, erwiderte Lew.
Das erklärte manches. Lew hätte sich nie freiwillig gemeldet. »Und du bist Offizier!«
»Du auch«, sagte Lew.
Grigori schüttelte den Kopf. »Ich bin Militärkommissar. Das alte System gibt es nicht mehr.«
»Aber es gibt immer noch Männer, die Tee bestellen, und andere, die ihn bringen«, bemerkte Lew, als der Adjutant mit den Tassen kam. »Maminka wäre stolz auf dich.«
»Sie würde platzen vor Stolz. Warum hast du mir nie geschrieben? Ich dachte, du wärst tot!«
»Ach, verdammt, tut mir leid«, sagte Lew. »Ich hatte ein so schlechtes Gewissen, weil ich deinen Fahrschein genommen habe, dass ich dir erst schreiben wollte, wenn ich das Geld für deine Überfahrt zusammenhabe. Deshalb habe ich den Brief immer wieder hinausgeschoben.«
Das war eine schwache Entschuldigung, aber typisch für Lew. Er ging auf kein Fest, wenn er kein elegantes Jackett hatte, und er weigerte sich, ein Gasthaus zu betreten, wenn er nicht genug Geld hatte, um eine Runde zu schmeißen.
»Du hast mir nicht gesagt, dass
Weitere Kostenlose Bücher