Sturz der Titanen
Gesellschaft funktionieren sollte, unterscheiden sich dramatisch.«
»Und was ist deine Vision?«
»Das sehe ich nicht mehr so klar wie früher. Seitdem ich aus dem Weißen Haus berichte, betrachte ich die Politik mit anderen Augen. Aber ich bin immer noch der Überzeugung, dass jede Autorität sich rechtfertigen muss.«
»Ich glaube, darüber werden wir uns nie streiten.«
»Gut. Nächste Frage?«
»Erzähl mir von deinem Auge.«
»Ich wurde so geboren. Mit einer Operation hätte es geöffnet werden können. Hinter dem Augenlid ist zwar nur nutzloses Gewebe, aber ich hätte mir ein Glasauge einsetzen lassen können. Allerdings hätte ich das Auge dann nie schließen können. So, wie es jetzt ist, schien es mir das geringere Übel zu sein. Stört es dich?«
Gus blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Darf ich es küssen?«
Rosa zögerte. »Meinetwegen.«
Gus beugte sich vor und küsste ihr geschlossenes Augenlid. Es fühlte sich nicht im Mindesten seltsam für seine Lippen an. Es war nicht anders, als sie auf die Wange zu küssen. »Danke«, sagte er.
Leise sagte Rosa: »Das hat noch nie jemand getan.«
Gus nickte. Er hatte sich schon gedacht, dass ihr Auge stets tabu gewesen war.
Rosa fragte: »Warum hast du das gewollt?«
»Weil ich alles an dir liebe, und ich wollte, dass du es weißt.«
»Oh.« Rosa schwieg eine Zeit lang und rang mit ihren Gefühlen. Dann grinste sie und nahm wieder jenen frechen Tonfall an, den Gus so sehr mochte. »Na, wenn du noch andere seltsame Dinge küssen willst, lass es mich wissen.«
Gus war nicht sicher, wie er auf dieses unbestimmte, aber aufregende Angebot reagieren sollte; also beschloss er, es erst einmal zu ignorieren, um zum geeigneten Zeitpunkt darauf zurückzukommen. »Eine Frage habe ich noch.«
»Ja?«
»Vor vier Monaten habe ich dir gesagt, dass ich dich liebe.«
»Ich hab’s nicht vergessen.«
»Aber du hast nicht gesagt, ob du etwas für mich empfindest. Und wenn ja, was.«
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Kann sein, aber ich würde es gerne hören. Liebst du mich?«
»Oh, Gus, begreifst du denn nicht?« Rosas Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Ich bin nicht gut genug für dich. Du warst der begehrteste Junggeselle in Buffalo und ich die einäugige Anarchistin. Alle erwarten von dir, dass du dich in eine elegante, schöne und reiche Frau verliebst. Ich bin Arzttochter, und meine Mutter war Hausmädchen. Ich bin nicht die Richtige für dich.«
»Liebst du mich?«, wiederholte Gus ruhig, aber hartnäckig.
Rosa brach in Tränen aus. »Natürlich, du Esel. Ich liebe dich von ganzem Herzen.«
Gus zog sie an sich. »Das ist alles, was zählt.«
Tante Herm legte den Tatler zur Seite. »Es war sehr ungehörig von dir, deine Heirat geheim zu halten«, sagte sie zu Maud. Dann lächelte sie verschwörerisch. »Aber romantisch!«
Sie saßen im Salon von Fitz’ Villa in Mayfair. Bea hatte ihn nach Kriegsende neu ausstatten lassen, im neuen Stil des Art déco mit nüchtern aussehenden Sesseln und modernistischem Silbertand von Asprey. Bei Maud und Herm saßen Fitz’ schelmischer Freund Bing Westhampton und dessen Frau. Die Londoner Saison war in vollem Gange, und sie wollten in die Oper, sobald Bea so weit war. Sie sagte gerade Boy, der mittlerweile dreieinhalb war, und dem zwei Jahre jüngeren Andrew Gute Nacht.
Maud nahm die Zeitschrift und schaute sich den Artikel noch einmal an. Das Foto gefiel ihr nicht sonderlich. Sie hatte sich vorgestellt, dass es zwei Verliebte zeigte, doch es sah aus wie ein Szenenfoto aus einem Film. Walter erschien raubtierhaft, wie er ihre Hand hielt und ihr einem verworfenen Schwerenöter gleich in die Augen blickte, und sie sah ganz aus wie die Unschuldige, die hilflos seinen Schlichen zum Opfer fallen würde.
Der Text jedoch sagte genau das, worauf Maud gehofft hatte. Der Autor erinnerte die Leser daran, dass Lady Maud vor dem Krieg die »modebewusste Suffragette« gewesen war, dass sie die Kampagne für die Rechte der in der Heimat zurückgebliebenen Frauen im Soldier’s Wife begonnen hatte und aus Protest für Jayne McCulleys Rechte ins Gefängnis gegangen war. Dort stand, dass sie und Walter eigentlich geplant hätten, ihr Verlöbnis auf normalem Wege bekannt zu geben, was durch den Kriegsausbruch verhindert worden sei. Ihre hastige, geheime Heirat wurde als verzweifelter Versuch dargestellt, unter außergewöhnlichen Umständen das Richtige zu tun.
Maud hatte darauf bestanden, wörtlich zitiert zu
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