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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Familie?«
    »Ja«, antwortete Dewar. »Joseph Vyalov« – er sprach den Namen amerikanisch aus – »beschäftigt mehrere Hundert Leute in seinen Bars und Hotels.«
    »Danke.« Grigori war erleichtert. »Das ist gut zu wissen.«

    Grigoris früheste Erinnerung war die an den Tag, an dem der Zar nach Bulownir gekommen war. Damals war Grigori sechs gewesen.
    Seit Tagen hatten die Dörfler von nichts anderem mehr geredet. Alle standen bei Sonnenaufgang auf, obwohl es sich von selbst verstand, dass der Zar zuerst frühstücken und deshalb nicht vor dem Vormittag eintreffen würde. Grigoris Vater trug den Tisch aus ihrer Einzimmerhütte und stellte ihn an die Straße. Dann legte er einen Laib Brot darauf; daneben kamen ein Strauß Blumen und ein Topf mit Salz. Das, erklärte er seinem älteren Sohn, seien die traditionellen russischen Symbole der Gastfreundschaft, und tatsächlich taten die meisten Dörfler es ihm gleich. Grigoris Großmutter hatte sich ein neues gelbes Kopftuch umgebunden.
    Es war Anfang Herbst, ein trockener Tag kurz vor der ersten Winterkälte. Die Bauern hockten sich hin und warteten. Die Dorfältesten gingen in ihrer besten Kleidung auf und ab und schauten gewichtig drein, obwohl sie nicht anders waren als alle anderen. Grigori wurde es bald langweilig, und so begann er im Matsch neben dem Haus zu spielen. Sein Bruder Lew war erst ein Jahr alt und wurde noch von ihrer Mutter umsorgt.
    Mittag war vorbei, doch niemand wollte ins Haus gehen und Essen kochen aus Furcht, den Zaren zu verpassen. Grigori versuchte, sich ein Stück von dem Brot zu nehmen, das auf dem Tisch lag, bekam jedoch einen Klaps auf die Hand; stattdessen brachte Maminka ihm eine Schüssel kalten Brei.
    Grigori war nicht sicher, wer oder was der Zar eigentlich war. In der Kirche jedenfalls wurde oft über ihn gesprochen. Der Zar liebe alle Bauern, sagte der Pope, und wache im Schlaf über sie. Also stand der Zar offensichtlich auf einer Stufe mit dem heiligen Petrus und dem Erzengel Gabriel. Grigori fragte sich, ob der Zar wohl Flügel oder eine Dornenkrone hatte oder ob er nur einen bestickten Mantel trug wie ein Dorfvorsteher. In jedem Fall stand fest, dass allein schon den Zar zu sehen ein Segen für die Menschen war, so wie damals bei Jesus und seinen Jüngern.
    Es war später Nachmittag, als plötzlich in der Ferne eine Staubwolke zu sehen war. Grigori spürte, wie der Boden unter seinen Filzstiefeln zitterte. Kurz darauf vernahm er das Donnern von Hufen. Alle im Dorf fielen auf die Knie. Grigori kniete sich neben seine Babuschka. Die Dorfältesten legten sich mit dem Gesicht nach unten auf die Straße, die Stirn im Dreck, so wie sie es auch taten, wenn Fürst Andrej und Fürstin Bea kamen.
    Vorreiter erschienen, gefolgt von einer geschlossenen Kutsche, die von vier Pferden gezogen wurde. Die Pferde waren riesig, die größten, die Grigori je gesehen hatte, und wurden unbarmherzig angetrieben. Ihre Flanken glänzten von Schweiß, und vor ihren Mäulern stand Schaum. Die Dorfältesten erkannten erst jetzt, dass die Kutsche und der Reitertrupp nicht anhalten würden, und so sprangen sie rasch aus dem Weg, um nicht niedergetrampelt zu werden. Grigori schrie vor Angst, doch sein Schrei ging im Lärm unter. Als die Kutsche vorbeidonnerte, rief sein Vater: »Lang lebe der Zar, Vater seines Volkes!«
    Er hatte kaum ausgesprochen, als die Kutsche das Dorf bereits hinter sich gelassen hatte. Grigori war untröstlich. Der aufgewirbelte Staub hatte ihm den Blick auf die Leute in der Kutsche verwehrt. Aber weil er den Zar nicht gesehen hatte, war er jetzt nicht gesegnet. Vor Kummer brach er in Tränen aus.
    Maminka nahm den Laib Brot vom Tisch, brach ein Stück ab und gab es ihm zu essen. Da fühlte Grigori sich schon wieder besser.

    Wenn seine Schicht in den Putilow-Werken um sieben Uhr abends vorbei war, ging Lew für gewöhnlich mit seinen Kollegen Karten spielen oder trank etwas mit seinen leichtlebigen Freundinnen. Grigori hingegen besuchte häufig irgendeine Veranstaltung: eine Vorlesung über Atheismus, eine sozialistische Diskussionsrunde, eine Laterna-magica-Schau über fremde Länder oder eine Dichterlesung. An diesem Abend jedoch hatte er nichts zu tun. Deshalb wollte er nach Hause, sich einen Eintopf zum Abendessen kochen, etwas davon für Lew übrig lassen und früh zu Bett gehen.
    Die Fabrik befand sich in den südlichen Außenbezirken von Sankt Petersburg; die Schornsteine, Schuppen und Hallen erstreckten sich über ein

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