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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Diskussionsgruppe und Grigoris bester Freund. Er warf den Elektromotor an, und das Rad begann sich mit hoher Geschwindigkeit zu drehen. Ein Kreischen ertönte, als Konstantin den Drehmeißel ansetzte.
    »Bleiben Sie bitte von der Drehmaschine weg«, rief Grigori den Besuchern zu, um den Lärm zu übertönen. »Wenn Sie das Rad berühren, könnte es Sie einen Finger kosten.« Er hob die linke Hand. »So wie mich, hier in dieser Fabrik, als ich zwölf war.« Von Grigoris Ringfinger war nur noch ein hässlicher Stumpf geblieben. Graf Malakowski warf ihm einen verärgerten Blick zu. Der Direktor wurde nicht gerne daran erinnert, welchen Preis andere mit ihrem Fleisch und Blut zahlten, damit er Profit machen konnte. In Fürstin Beas Blick hingegen mischten sich Ekel und Faszination. Grigori fragte sich, ob sie womöglich ein abartiges Interesse an menschlichem Leid und Elend hatte. Auf jeden Fall war es äußerst ungewöhnlich für eine Dame ihres Standes, sich durch eine Fabrik führen zu lassen.
    Grigori gab Konstantin ein Zeichen, worauf dieser die Drehmaschine anhielt. »Als Nächstes wird das Rad mit Schieblehren ausgemessen«, fuhr Grigori fort und hielt das entsprechende Werkzeug in die Höhe. »Die Räder einer Lokomotive müssen exakt bemessen sein. Weicht der Durchmesser mehr als ein Sechzehntel Zoll vom Standard ab – ungefähr die Dicke einer Bleistiftmine –, muss das Rad eingeschmolzen und neu gegossen werden.«
    Fitzherbert fragte mit seinem starken Akzent: »Wie viele Räder stellen Sie am Tag her?«
    »Im Durchschnitt sechs oder sieben, unter Berücksichtigung der Fehlgüsse.«
    Dewar, der Amerikaner, erkundigte sich: »Wie sind die Arbeitszeiten?«
    »Sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends, von Montag bis Samstag. Sonntags dürfen wir in die Kirche.«
    Ein Junge von ungefähr acht Jahren kam in die Gießerei gerannt, verfolgt von einer schreienden Frau, vermutlich seine Mutter. Grigori griff nach dem Jungen, um ihn vom Schmelzofen fernzuhalten, doch das Kind duckte sich unter ihm weg und prallte in vollem Lauf gegen Fürstin Bea. Sein kurz geschorener Kopf traf sie mit hörbarem, dumpfem Laut an den Rippen. Vor Schmerz schnappte Bea nach Luft. Der Junge blieb stehen, verwirrt und benommen. Zornig riss die Fürstin einen Arm in die Höhe und schlug dem Jungen so fest ins Gesicht, dass Grigori glaubte, das Kind würde zu Boden gehen. Der Amerikaner sagte etwas auf Englisch; seine Stimme klang verwundert und indigniert. Dann hob die Mutter den Jungen mit ihren starken Armen hoch und eilte mit ihm davon.
    Kanin, der Fertigungsleiter, riss voller Angst die Augen auf. Er wusste, dass man ihm die Schuld an dem Vorfall geben könnte. »Seid Ihr verletzt, Durchlaucht?«, fragte er die Fürstin.
    Bea war wütend, atmete jedoch tief durch und antwortete: »Nein, es ist nichts passiert.«
    Ihr Mann und der Graf eilten besorgt zu ihr. Nur Dewar hielt sich zurück; seine Missbilligung war ihm deutlich anzusehen. Wahrscheinlich hatte die Ohrfeige, die die Fürstin dem Jungen verpasst hatte, den Amerikaner schockiert, mutmaßte Grigori. Er fragte sich, ob alle Amerikaner so zimperlich waren. Eine Ohrfeige war nichts. Grigori und sein Bruder waren hier, in dieser Fabrik, als Kinder mit Stöcken geprügelt worden.
    Die Besucher schickten sich an, ihre Besichtigungstour durch die Fabrik fortzusetzen. Grigori fürchtete, die Gelegenheit zu verpassen, mit dem Amerikaner aus Buffalo zu reden. Kühn berührte er Dewar am Ärmel. Ein russischer Edelmann hätte Grigori diese Frechheit mit Schlägen vergolten, doch der Amerikaner drehte sich bloß um und lächelte den Russen freundlich an.
    »Sie sind doch aus Buffalo, New York, Sir, nicht wahr?«, fragte Grigori.
    »Das stimmt.«
    »Mein Bruder und ich sparen, damit wir nach Amerika gehen können. Wir wollen in Buffalo leben.«
    »Warum ausgerechnet da?«
    »Hier in Sankt Petersburg gibt es eine Familie, die an die erforderlichen Papiere kommt – gegen Gebühr, versteht sich. Sie haben uns versprochen, dass wir bei ihren Verwandten in Buffalo arbeiten können.«
    »Wie heißen die Leute?«
    »Wjalow.« Die Wjalows waren Kriminelle, machten aber auch legale Geschäfte. Sie waren nicht gerade die vertrauenswürdigsten Zeitgenossen; deshalb hätte Grigori es gerne gesehen, wenn die Behauptungen der Wjalows, was ihre Verwandten betraf, von einer unabhängigen Quelle bestätigt würden. »Sind die Wjalows in Buffalo, New York, wirklich eine so reiche und mächtige

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