Sturz in die Vergangenheit
du, wie lange es dauern wird, bis wir uns doch irgendwie nahe kommen?“
Das war in der Tat ein Problem. „Jeden Tag eine gute Mahlzeit zu bekommen, könnte dir aber wirklich nicht schaden“, wandte Matthias ein. „Soweit ich das im Gedächtnis habe, ist Lepra eine Elendskrankheit wie Tuberkul...“ Er brach ab, Wilmars Worte für Gangolf wieder im Kopf. „Dein Vater ...“, begann er zögernd. Der war an Tuberkulose gestorben, ebenfalls einer Elendskrankheit. In welche Zeit war er hier nur geraten?
Gangolf nickte ernst. „Ich weiß schon.“
„Woher?“
Der Junge zuckte traurig die Schultern und wies mit dem Kinn in Richtung Burg. „Die anderen“, begann er zögernd. „Sie wissen so einiges.“
„Diese – kranken Kreaturen?“ Matthias konnte sich nicht vorstellen, dass die Gestalten auf dem Bettlerhof noch etwas anderes mitbekamen als das Elend, in dem sie steckten.
„Ausgestoßen zu sein bedeutet doch nur, dass die Leute dich nicht mehr sehen wollen. Es heißt aber nicht, dass du einfach verschwindest.“ Gangolf lachte kurz und bitter auf. „Naja, die meisten verschwinden schon. In die Wälder, wo sie versuchen, ein Leben fernab der Gesunden zu führen. Andere wandern herum, betteln mal hier, mal da. Wie ich. Manche aber bleiben. Sie verstecken sich unentdeckt in der Nähe, in Kellern, in Höhlen. Genauso, wie Adelinda das von mir fordert.“
„Und so hast du vom Tod deines Vaters erfahren?“
Gangolf zwinkerte kurz mit den Augen, als müsste er Tränen wegdrücken. Dann wandte er sich ab. „Nicht erst heute. Ich weiß es schon länger.“
„Bleib“, sagte Matthias aus einem plötzlichen Impuls heraus.
War es der Umstand, dass Gangolf mit Adelindas Hilfe wenigstens keine Abfälle essen musste? Oder eher der, dass der Junge ja noch nicht sichtbar krank war – und Matthias sich demzufolge auch nicht vorstellen konnte, dass er mit bereits Gezeichneten leben würde, bis ...
Aber es war noch mehr. Er selbst brauchte Gangolf. Dringend. Lass mich nicht allein , hätte er deshalb hinzufügen müssen. Doch das unterließ er. Gangolf wäre vielleicht geschmeichelt, aber er hätte auch wissen wollen, warum Matthias ausgerechnet einen Aussätzigen um sich haben wollte. Und wie hätte er ihm erklären sollen, dass nicht Lepra die eigentliche Gefahr für ihn darstellte?Tatsache war nämlich, außer Gangolf gab es niemanden, der ihm helfen konnte, Mila und Ilya zu befreien. Und ohne Mila wäre er hier verloren, im finsteren Mittelalter mit all seinen unbekannten Schrecken. So das hier alles real war. Nur insofern.
„Iss gut und regelmäßig. Die Krankheit wird dadurch vielleicht nicht verschwinden, aber sie schreitet langsamer voran.“
„Mach ich. Aber du solltest jetzt ebenfalls gehen, zumindest, wenn du noch heute Nacht Mila befreien willst. Ansonsten läufst du nämlich Gefahr, wie eine Maus den Fels hochklettern zu müssen, weil die Burgtore geschlossen sind.“ Optimistisch lächelnd klopfte sich Gangolf Blätter und Staub aus der Kleidung. „Verbirg dich im Stall. Wenn die Wachen heute Nacht zu singen aufhören, ist die rechte Zeit für dich gekommen.“
„Danke, das werde ich.“ Matthias rappelte sich ebenfalls hoch. „Was tust du inzwischen?“
„Ich gehe.“ Der junge Mann deutete den Berg hinab. „Ungefähr eine Wegstunde entfernt ist im Wald eine Siedlung von Aussätzigen. Dort kann ich bleiben.“
„Aber wie willst du das ... mit Adelinda lösen?“
„Ich werde, wie versprochen, immer mittags in der Nähe sein, um mein Essen abzuholen. Allerdings ohne ihr zu begegnen. Du weißt, warum.“ Gangolf schüttelte den Kopf und sah zu Boden. „Aber ich hinterlasse ihr Zeichen, damit sie weiß, dass ich in der Nähe bin.“
Das war – angesichts der Umstände – das Beste, was Gangolf tun konnte, das war Matthias klar. Dennoch brummte er gequält.
„Hast du eine bessere Idee?“, brauste Gangolf, der seine Reaktion offenbar missdeutet hatte, sofort auf. „Wenn ja, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du sie mir mitteilen würdest. Ansonsten – denk an Gundelindis und die anderen. Das will ich ihr ersparen, verstehst du?“
„Ich – nein“, gab Matthias sofort zu. „Deine Idee ist ausgezeichnet. Eine bessere hätte ich auch nicht.“
Eigennützig fühlte er sich, widerlich egoistisch. Es war nicht die Sorge um Adelinda, die ihn belastete, sondern die um das, was heute Nacht alles passieren konnte. Seine Phantasie hielt Lanzen parat, Schwerter, Schilde. Shit, dieses
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