Sturz in die Zeit: Roman (German Edition)
geöffneten Kühlschrank und begutachtete den Inhalt. »Amüsierst du dich?«
Ich griff um ihn herum und nahm zwei Flaschen Wasser heraus. »Ja. Aber könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Was denn?«
»Kannst du irgendeinen Vorwand erfinden, um in ungefähr fünf Minuten zu uns reinzukommen?«, fragte ich widerstrebend.
Dad nahm die Milch heraus und schloss den Kühlschrank. »Warum?«
Ich stöhnte leise. »Weil ich mich offenbar in einen anständigen Menschen verwandelt habe, der ein schlechtes Gewissen hat, wenn er mit einem siebzehnjährigen Mädchen zu weit geht.«
Er grinste andeutungsweise. »Aber als du 2009 mit ihr ausgegangen bist, war sie nicht so jung?«
»Genau. Es ist nicht dasselbe, was es war … vorher … in der Zukunft oder wie du es auch immer sehen willst.« Ich machte mich auf den Rückweg zu ihr, drehte mich aber schnell noch einmal um: »Vielleicht zehn Minuten, okay?«
Er lachte. »Ja, klar.«
Holly stand vor dem Regal und sah sich die DVDs an, als ich zurückkam. Sie zupfte an den Trägern ihres Kleides herum und rückte das Oberteil zurecht.
»Soll ich dir was anderes holen, damit du dich umziehen kannst?«, fragte ich, da ich nach einem Vorwand suchte, den Raum wieder zu verlassen und ein bisschen mehr von ihrer Haut zu verdecken.
»Ich hätte meine Tasche mitbringen sollen, aber ich war nach der Arbeit so in Eile.« Sie nahm mir das Wasser aus der Hand.
Ich nickte zur Tür hin, und Holly folgte mir durch den Flur. Meine Hand zögerte auf dem Drehknopf, bevor ich Courtneys Zimmer betrat. Holly blieb ein Stück hinter mir, als ich zu dem begehbaren Kleiderschrank ging. Dad hatte nichts weggeräumt. Das Zimmer war tadellos in Ordnung – kein Staubkorn, nichts. Die Putzfrau kam jeden Tag hier herein und saugte, schüttelte das lavendelfarbene Oberbett auf und hob die Schmuckstücke auf der Kommode hoch, um sie abstauben zu können.
Holly fuhr mit dem Zeigefinger über den weißen Schminktisch. Ganz vorsichtig, als könnte sie etwas zerbrechen; vielleicht schüchterte es sie ein, einen Raum zu betrachten, der voller Dinge war, die von ihrer Besitzerin niemals mehr berührt werden würden.
Ich öffnete den Schrank, schaute die Regale durch und durchsuchte ganz in Ruhe Courtneys Sachen. Dabei sah ich auch die pink-grünen Turnschuhe, die sie getragen hatte, als ich während meines Sprungs ins Jahr 2004 zum ersten Mal mit ihr gesprochen hatte; allerdings erst nachdem sie mich zunächst abgewehrt und ihre Selbstverteidigungskünste an mir erprobt hatte.
Als ich schließlich mit einer Jogginghose und einem langarmigen T-Shirt wieder herauskam, betrachtete Holly gerade eine auf dem Schminktisch liegende Karte. Dort standen immer noch mindestens zwei Dutzend Karten mit Genesungswünschen. Ich stellte mich hinter sie und schaute ihr über die Schulter. Als ich sah, welche Karte sie las, drehte sich mir fast der Magen um.
Im Dezember 2008 hatte Dad endlich den Mut aufgebracht, sich von Courtneys Sachen zu trennen – was auch nötig gewesen war. Als ich in den Winterferien nach Hause kam, war das Zimmer leer. Alles war weg, und diese Karte war das Einzige, was ich wahnsinnig gern behalten hätte. Nicht nur im Haus, sondern hier, in ihrem Zimmer. Aber dieses Jahr hatte ich nicht mal daran gedacht, sie mir anzusehen.
Ich starrte auf meine eigene Schrift und spürte, wie ich von Trauer überwältigt wurde. Nicht wegen ihres Inhalts, sondern weil die Adressatin diese Karte nie zu lesen bekommen hatte.
Courtney,
an meine Lieblingsschwester, die viel cooler ist, als ich je zugeben wollte. Ich habe eine Liste mit weiteren Geheimnissen zusammengestellt, die ich vor dir hatte. Wenn du sie jemandem zeigst, hole ich deine Baby-Nacktfotos raus und lasse sie in der Schule rumgehen.
Alles, was ich meiner Schwester nie erzählt habe
(na ja, vielleicht nicht alles)
Von Jackson Meyer
1. Du riechst eigentlich gar nicht so schlecht.
2. Ich war derjenige, der dir letztes Jahr das Kaugummi in die Haare geklebt hatte, als du zwölf Zentimeter abschneiden musstest, um es wieder rauszukriegen.
3. Ich hab gelogen, als ich dir erzählte, ich hätte das Foto von dir mit den Lockenwicklern im Haar meinen Freunden gezeigt. Das hab ich nur gesagt, weil du Dad von den Filmen unter meinem Bett erzählt hattest (und nein, das waren nicht meine, und ich hab sie mir nie angesehen).
4. Ich fand es nett von dir, dass du Miss Ramsey geholfen hast, den kleinen Kindern im Krankenhaus spanische Lieder
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