Sturz ins Glück
wie viele Bibelstellen es über Schafe und Hirten gibt, bis ich zwei Jahre mit diesen Viechern verbracht habe. Es hat mir einen völlig neuen Blick darauf gegeben, was der Herr für eine anstrengende Aufgabe hat und wie viel Sorgen ihm seine Herde bereiten muss.“
Gideon Westcott mochte ein Schuft sein, aber er hatte Tiefgang.
„Was ist mit Ihnen? Welche Lebensumstände haben Sie hierher verschlagen?“
Sie konnte nicht wirklich antworten, dass sie einer Wolke gefolgt war, oder? Er würde sie für verrückt halten. Stattdessen entschied sie sich für die langweiligere Version der Wahrheit. „Ich habe Mr Bevins Anzeige in der Gazette gesehen und mich beworben.“
Ihr Arbeitgeber schüttelte langsam den Kopf und schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Schämen Sie sich, Miss Proctor. Es muss eine interessantere Erklärung geben.“ Er beugte sich vor und zwinkerte. Ihr Herz stolperte. Eine Locke seines dunklen Haares fiel ihm in die Stirn. Adelaide musste sich geradezu zwingen, sie ihm nicht aus dem Gesicht zu streichen.
„Der Vorsitzende des Schulamtes in Cisco hat ein glühendes Empfehlungsschreiben verfasst. Ganz offensichtlich hätte man Sie am liebsten dort behalten. Warum also sind Sie von dort weggegangen? Reiselust? Ein nerviger Verehrer? Eine kranke Verwandte?“
Panik zog Adelaides Magen zusammen. Nicht einmal das jungenhafte Lächeln konnte ihr die Anspannung nehmen. Hatte Mr Bevin ihm von ihrem Heiratsfiasko erzählt? Sie hatte ihm keine Details genannt und er hatte nicht weiter nachgefragt, aber wenn er in Mr Westcotts Gegenwart Andeutungen gemacht hatte … Nein. Sie würde sich hier nicht um Kopf und Kragen reden. Auch einer Angestellten stand eine gewisse Privatsphäre zu.
„Meine Gründe waren persönlicher Natur. Ich bin sicher, Sie verstehen das.“ Adelaide lächelte und hoffte, dass ihre Worte in seinen Ohren nicht so prüde klangen wie in ihren eigenen.
„Natürlich.“ Gideon streckte ihr die Hände mit offenen Handflächen entgegen, als akzeptiere er ihre Ausrede. Und dann berührte er sie. Sein Zeigefinger fuhr sanft über ihren Handrücken, sodass ein Schauder über ihren Arm lief. „Aber es erscheint mir nicht gerecht, dass ich Ihnen ein Stück meiner Lebensgeschichte preisgebe, ohne dass Sie sich revanchieren. Ich verspreche, dass ich alles, was Sie mir erzählen, streng vertraulich behandeln werde.“
Adelaide biss sich auf die Unterlippe. Er hatte sich ihr tatsächlich geöffnet. Sie wollte ihm auch etwas anbieten, vor allem in diesem Moment, in dem er sie so ansah, als halte sie allein den Schlüssel zu seiner glücklichen Zukunft in der Hand. Er fragte ja nicht nach viel, wollte nur eine Antwort auf seine Frage haben. Aber genau diese Antwort könnte sie um ihre Arbeitsstelle bringen.
„Es tut mir leid, Mr Westcott.“ Sie wandte den Blick ab und senkte ihn auf ihre Hände, die einander berührten. „Ich möchte keine Details erzählen. Aber ich versichere Ihnen, dass die Situation, die mich nach Fort Worth geführt hat, in keinster Weise mein Können und die Aufgaben beeinträchtigt, die Sie für mich haben.“
Er seufzte. „Na gut.“
Gideons ganzes Verhalten änderte sich plötzlich. Er wandte sich leicht von ihr ab und sein Lächeln wandelte sich zu einer höflichen Miene. Keine Grübchen. Kein Funkeln in den Augen. Kein neckendes Zwinkern. Er war wieder ganz der Farmbesitzer und Adelige.
Wieder durchfuhr Adelaide ein Schaudern – doch diesmal lag es nicht an ihrer Freude. Henry Belcher hatte sie mit süßen Worten und netten Gesten beeindruckt, um von ihr zu bekommen, was er haben wollte. War Gideon Westcott genauso?
„Also, Miss Proctor … zu Ihren Aufgaben.“
Erleichtert, dass ihr Arbeitgeber sich wieder an seine Rolle zu erinnern schien, setzte sie sich zurecht. „Ja, Sir?“
„Isabella ist ein sehr ruhiges Kind und das liegt nicht nur daran, dass sie einfach nicht sprechen will. Seit ihrem schrecklichen –“
„Entschuldigen Sie, aber sagten Sie gerade, dass sie nicht sprechen wolle?“ Adelaides Gedanken rasten. Wenn das Kind nicht wirklich stumm war, warum sprach es dann nicht? Hatte es Angst? War es stur? Krank?
Gideons Stimme unterbrach ihre Gedanken.
„Früher hat sie geplappert wie ein Wasserfall.“ Trauer trat auf sein Gesicht. „Ich vermute, dass es irgendetwas mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hat. Seitdem hat sie nicht ein einziges Wort gesprochen.“
Adelaide presste ihre Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. Es war Jahre
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