Sturz ins Glück
schlief eine halbe Stunde später erschöpft ein. Miss Proctor versprach, auf sie achtzugeben, also konnte Gideon sein durchweichtes Hemd wechseln. Im Stillen dankte er Gott, dass sie da gewesen war. Die Angst, die er in den kurzen Momenten empfunden hatte, bis Miss Proctor die Kontrolle übernommen hatte, verfolgte ihn immer noch.
Er suchte nach seinem Vorarbeiter und fand ihn im Räucherhaus, wo er einen Hirsch an den Hinterläufen aufgehängt hatte. Chalmers’ Anzugjacke hing an einem Nagel in sicherem Abstand zu dem blutigen Fleisch.
„Das erklärt also, wie das Blut auf das Hemd gekommen ist.“
Miguel wandte sich mit nacktem Oberkörper zu ihm herum. „ Señor Westcott!“ Er wischte ein Messer an seiner Hose ab und steckte es in ein kleines Futteral. Langsam ging er auf Gideon zu.
„Lo siento, patrón. Es tut mir schrecklich leid. Ich bin nur in la cocina gegangen, um Señora Garrett zu fragen, ob sie frisches Wildbret haben möchte. Dann fing die kleine señorita plötzlich an zu schreien. Ich … ich wusste nicht, was ich machen sollte.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. Gideon konnte ihn verstehen.
„Verzeihen Sie mir, señor . Ich werde das Haus nicht wieder betreten.“
Gideon legte die Hand auf die Schulter des Mannes. „Du bist jederzeit in meinem Haus willkommen, Miguel.“
Miguel ließ den Kopf hängen. „Gracias , aber ich werde diesen Fehler nicht noch einmal machen. Die kleine se ñorita ist zu sensibel für mein raues Benehmen.“ Er hielt kurz inne. „Sie erinnert mich an meine Rosa.“
„Rosa?“ Gideon trat einen Schritt zurück. Als er Miguel eingestellt hatte, hatte er nichts davon gesagt, dass er eine Familie hatte.
„Sí , meine kleine Nichte. Nur dass sie nicht mehr so klein ist.“ Er sah mit einem Lächeln auf den Lippen in Richtung Westen. „Einer der jungen Arbeiter hatte ein Auge auf sie geworfen. Ein guter Mann. Vielleicht sind sie schon verheiratet, was?“
Wie hatte Gideon jahrelang Seite an Seite mit Miguel arbeiten können, ohne etwas von seiner Familie in Kalifornien zu erfahren? Vielleicht hatte Miguel seine Gründe, nicht darüber zu reden, doch wahrscheinlicher war, dass sein Arbeitgeber sich einfach nicht dafür interessiert hatte.
Gideon wusste, wie schwer es war, von seiner Familie getrennt zu sein. Er freute sich schon auf den nächsten Brief seiner Mutter, die immer über seine Brüder und ihre Familien berichtete. Doch er konnte sich nicht entsinnen, dass jemals ein Brief für Miguel angekommen wäre. „Hast du denn nichts von ihnen gehört, seit du weggegangen bist?“
Der Arbeiter zuckte mit den Schultern. „Meine Schwester kann nicht gut lesen. Und Rosa ist jung. Sie hat andere Dinge im Kopf. Aber no es importante . Wie geht es der kleinen señorita?“
„Besser.“ Gideon lehnte sich gegen die Wand des Räucherhauses. „Sie schläft jetzt.“
„Bueno.“
Gideon nickte. „Es ist seltsam. Bella hat doch schon vorher Blut gesehen und ist nicht außer sich geraten. Erinnerst du dich, wie es war, als ich mir den Finger an der Glasscherbe aufgeschnitten hatte? Sie hat meine Hand gehalten und wie eine erfahrene Krankenschwester zugeschaut, wie du meinen Finger genäht hast.“
Der Vorarbeiter wirkte nachdenklich. „Sí. Das ist wahr.“
„Miss Proctor glaubt, dass der Grund vielleicht darin liegt, wo exakt die Blutflecken auf deinem Hemd waren.“
Gideon stellte sich vor, wie die junge Frau nun neben dem Bett seiner Tochter saß. Sie hatte ihn mit ihrer ruhigen Reaktion vorhin mehr als überrascht. Bisher hatte sich sein Kontakt zu Frauen auf gesellschaftliche Anlässe beschränkt. Er hatte noch nie erlebt, wie eine Dame der Gesellschaft – abgesehen von seiner Mutter – eine Krise meisterte, die größer war als ein zerrissenes Ballkleid oder ein unverschämter Bediensteter. Und selbst seine Mutter verließ sich meistens auf seinen Vater, wenn es um Problemlösungen ging. Was ja auch gut so war, fand Gideon. Immerhin war es die Aufgabe eines Gentlemans, Frauen vor Problemen zu bewahren. Der Mann sollte die Lasten schultern. Doch seine neue Hauslehrerin schien sich um so etwas nicht zu kümmern. Sie war an seine Seite getreten und hatte mit ihren schmalen Schultern durchaus die Probleme stemmen können.
Und sie hatte seinem Charme widerstehen können. Nun, vielleicht nicht so ganz. Er hatte ihr Erschaudern gespürt, als er ihre Hand berührt hatte, aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle gehabt. Und schließlich hatte
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