Sturz ins Glück
her, dass ihr eigener Vater gestorben war, aber bis heute fühlte sie den Schmerz. Ihre Mutter hatte sie nie kennengelernt. Sie war für Adelaide immer nur die bildschöne Dame auf den Porträts im Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen. Anna Proctor war an einer Fehlgeburt gestorben, als Adelaide zwei Jahre alt gewesen war. Aber an den Tag, als ihr Vater gestorben war, konnte sie sich in jeder Einzelheit erinnern – genau wie an die Wut und Fassungslosigkeit, als Tante Louise sie nach Boston fortgeschickt hatte und sie alles Vertraute hinter sich lassen musste.
Alles außer Saba. Adelaide hatte sich geweigert, ohne ihr Fohlen zu gehen. Sie hatte jede Nacht im Stall geschlafen, bis Tante Louise schließlich zugestimmt hatte, das Pferd mitzuschicken. Der Verkauf der Ranch hatte sowohl für Sabas Unterbringung als auch für Adelaides Ausbildung zur Lehrerin gereicht. Für Notfälle stand ihr sogar noch eine ansehnliche Summe zur Verfügung. Doch auch wenn ihr Vater ihr ein Vermögen hinterlassen hatte, das so manchen englischen Adligen vor Neid erblassen lassen würde, hätte Adelaide alles hergegeben, um ihren Vater wieder lebendig zu machen.
Machte Isabella gerade das Gleiche durch? Wenn Gideon die letzten Jahre damit verbracht hatte, Schafe zu treiben, hatte er seine Frau und das Kind mit Sicherheit in England zurückgelassen. Er musste ein Fremder für seine Tochter sein. Isabella hatte ihre Mutter verloren – offenbar nicht nur der einzige Elternteil, den sie liebte, sondern auch der einzige, den sie wirklich gekannt hatte. Und als Krönung des Ganzen hatte man ihr auch noch die vertraute Heimat geraubt, die Freunde und Großeltern und das Haus, in dem sie bisher gelebt hatte. Kein Wunder, dass das Kind völlig verstört war.
„Miss Proctor, ich brauche Ihre Hilfe.“ Die Muskeln in Gideons Wangen zuckten, als seine dunklen Augen sie flehend musterten. „Sie zieht sich immer weiter in sich zurück. Ich habe große Angst, dass der Schmerz nie wieder verschwindet. Ich habe ihr Zeit zum Trauern gegeben, aber es kann doch nicht gut sein, wenn sie sich vollkommen darin zurückzieht. Ich möchte nicht, dass Sie sich nur um Isabellas Ausbildung kümmern, sondern dass Sie ihr helfen, ihre Lebensfreude zurückzugewinnen.“
Bewegt durch seine große Liebe zu dem Kind und den Schmerz, den die Kleine in sich tragen musste, erhob sich Adelaide und trat auf Gideon zu. Schnell sprang auch er auf, doch er schien ihr nicht in die Augen blicken zu können. Sie wusste, dass sie kein Recht hatte, ihn zu trösten, doch ihr Herz drängte sie dazu. Sanft legte sie ihre Hand auf seinen Arm.
„Ich weiß nicht, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin“, sagte sie leise, „aber ich werde alles daransetzen, Isabella zu helfen. Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen.“
Er sah ihr einige Augenblicke lang in die Augen, dann nickte er. „Ich danke Ihnen.“
Er trat einen Schritt zurück und räusperte sich. Als er sie wieder anschaute, war der Schmerz aus seinem Blick verschwunden. Er bedeutete ihr, mit ihm zur Tür zu kommen.
„Ich habe vor ein paar Wochen Schulbücher bestellt. Da ich nicht wusste, was benötigt wird, sagen Sie mir doch einfach Bescheid, wenn etwas Wichtiges fehlt.“ Er hielt seinen Blick starr nach vorne gerichtet. „Sie finden die Bücher im dritten Stock, zusammen mit anderen Utensilien. Richten Sie sich das Unterrichtszimmer so ein, wie Sie es gerne hätten.“ Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wippte hin und her. „Schauen Sie sich im Haus um. Lernen Sie Isabella kennen. Reiten Sie mit Ihrem Pferd durch die Gegend. Das hier wird von nun an Ihr Zuhause sein. Ich möchte, dass Sie sich wohlfühlen.“
„Danke, Mr Westcott.“
„Und halten Sie mich auf dem Laufenden, was –“
Ein hoher Schrei gellte durchs Haus. Der schmerzerfüllte Laut ließ sie beide erstarren. Auf Gideons Gesicht trat blanke Angst.
„Bella!“
Er rannte die Treppe hinunter, dem Geräusch der schrillen Kinderstimme nach. Adelaide folgte ihm auf dem Fuß.
Kapitel 7
Es dauerte nur wenige Sekunden, um die Küche zu erreichen, doch Gideon hatte das Gefühl, dass Jahre vergangen waren, bis er in den Raum platzte. Das Geschrei hielt an, stach ihm in die Ohren und ins Herz. Er erwartete, Isabella verletzt auf dem Boden liegen zu sehen, doch sie stand völlig unberührt in der Küche, ihre Kleidung genauso sauber und adrett wie am Morgen. Er fiel neben ihr auf die Knie und untersuchte sie von Kopf bis Fuß. Panik machte
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