Sturz ins Glück
ihre Zurückhaltung ihn dazu gebracht, sich bei seinen Annäherungsversuchen wie die Schlange im Garten Eden zu fühlen. Keine sonderlich angenehme Erfahrung.
„Ich muss Ihnen noch was sagen, patrón.“ Miguels Stimme unterbrach seine Gedanken. „Als ich heute Morgen draußen war, um nach den borregos auf der Nordweide zu schauen, habe ich gesehen, dass der Zaun zerschnitten war.“
Gideon runzelte die Stirn. „Absichtlich?“
„Sí.“ Miguel nickte mit grimmigem Gesicht.
Viele der Farmer hatten Gideon gewarnt, dass Zäune auf offenem Weideland den Zorn der alteingesessenen Rinderzüchter auf sich ziehen könnten. Sie waren es gewöhnt, frei über das Land zu ziehen und ihre Tiere dort weiden zu lassen, wo das Gras am saftigsten war. Doch wie sehr sie sich auch dagegen sträubten, die Zeit des freien Weidens war vorüber. Immer mehr Menschen ließen sich hier in Westtexas nieder, womit natürlich der Platz immer enger wurde. Um ihre Wasservorkommen und Weidegründe zu sichern, griffen immer mehr Farmer zu Pfosten und Weidezäunen.
„Juan hat gesagt, dass ein Mann im Dunklen aufgetaucht ist und immer wieder in die Luft geschossen hat, um die Tiere zu erschrecken. Er konnte ihn nicht erkennen, aber der Kerl hatte ein buntes Pferd mit weißen Flecken, die im Mondlicht leuchteten.“
Gideon spürte, wie die Wut in ihm loderte. Niemand hatte das Recht, seine Farm zu betreten und seine Schafe zu verängstigen. Das war Hausfriedensbruch. Seine Tiere bedeuteten für ihn die Zukunft. Zwei mühsame Jahre lang hatte er sie von Kalifornien hierher getrieben. Und jetzt kam ein dahergelaufener Cowboy und wollte ihn ruinieren? Gideon knirschte mit den Zähnen.
Am liebsten wäre er sofort zu seinen Nachbarn gegangen, um den Schuldigen ausfindig zu machen, doch dann fiel ihm ein, was Jesus die Menschen gelehrt hatte – die andere Wange hinzuhalten. Vergeltung war Gottes Sache. Wenn Gideon sich von seiner Wut hinreißen ließ, würde die Reaktion des Angreifers nur noch aggressiver ausfallen. Er wollte niemanden in Gefahr bringen, also musste er sich zwingen, abzuwarten.
Um sich zu sammeln, tippte er mit der Stiefelspitze gegen die Wand des Räucherhauses. Das leise rhythmische Klacken beruhigte ihn.
„Wie viele Tiere haben wir verloren?“
„Vielleicht ein Dutzend. No más.“ Miguel zog sein Messer hervor und machte sich wieder an die Arbeit. „Juan hat die ganze Nacht gearbeitet, um die Tiere wieder einzufangen. Die meisten hatten nur Angst. Ein paar Lämmer sind zertrampelt worden und einige Mutterschafe sind in eine Schlucht gestürzt. Juan hat sich um die Verletzungen der anderen gekümmert. Ich war auf dem Weg, um neuen Zaun zu holen, als mir dieser Prachtkerl hier über den Weg lief.“ Er wies auf den erlegten Hirsch. „Da konnte ich nicht Nein sagen.“ Miguel grinste zufrieden.
„Das kann ich mir vorstellen.“ Gideon schüttelte den Kopf und lächelte zurück. „Ich kümmere mich um den Zaun und unterhalte mich mit Juan. Wenn du mit dem Hirsch fertig bist, gib bitte den anderen Bescheid, dass sie anfangen sollen, die Schafe herzutreiben. Nächste Woche treffen die Scherer ein. Außerdem haben wir alles besser im Blick, wenn die Tiere hier in der Nähe sind.“
„Sí. Ich kümmer mich drum.“
Nachdem er seine Arbeitshandschuhe angezogen hatte, schnappte Gideon sich eine Rolle Weidezaun und Werkzeug. Er würde den Schaden auf der Nordweide reparieren und dafür beten, dass so etwas in Zukunft nicht mehr vorkam.
Die Stalltür quietschte, als er sie aufstieß. Im Inneren empfing ihn eine Dunkelheit, die seine Angst zurückbrachte. Was, wenn sein Nichtstun den Mann noch mehr anstachelte? Würde er zurückkommen und weiteren Schaden anrichten?
Treffe ich die richtige Entscheidung, Herr? Leite mich und beschütze die, die in meiner Obhut sind.
Sofort wanderten seine Gedanken zurück zu Isabella und zu der Erinnerung daran, dass sie ihn Papa genannt hatte. Seine Lippen wurden zu einer schmalen Linie. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr ein Leben in Sicherheit und Freude zu garantieren – was vermutlich auch bedeutete, seinen Stolz über Bord zu werfen und die Hilfe von Miss Proctor anzunehmen.
Kapitel 8
Das Kind hatte kein einziges Wort mehr gesagt. Seit einer Stunde war Isabella wieder wach und half Adelaide, Bücher und andere Dinge zusammenzutragen, die sie im Unterrichtszimmer gebrauchen könnten, doch sie war stumm wie zuvor. Adelaide folgte Isabella die enge Treppe nach
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