Such mich Thriller
jetzt, sondern Winter. Nicht Abend, sondern ein Tag vor vielen Jahren. Vier Wochen nach seiner ersten Begegnung mit den Egrams.
Erinnerung war nicht das richtige Wort, es war wie ein Nacherleben.
Wieder trug er eine Soutane, wieder fuhr er über die Route 66, diesmal, um seinen Schützling zu seiner Familie zurückzubringen. Der Zehnjährige saß neben ihm in dem Wagen, der über die von winterlich kahlen Bäumen gesäumte Straße rollte, über der sich ein bedeckter Himmel spannte. Das Gesicht des Jungen war noch geschwollen von der Operation.
Es war der Samstag nach Thanksgiving, hier und da standen Männer auf Leitern und befestigten auf den Dächern bunte Lichterketten für den nächsten Feiertag. Der Priester war guter Laune, denn er brachte ein schönes Weihnachtsgeschenk mit. Dann hielten sie am Straßenrand, und seine Miene verdüsterte sich.
Das Haus der Egrams wirkte wie eine leere Hülle. An den Fenstern fehlten die Vorhänge, hinter den Scheiben sah man kahle Wände. Der Junge neben ihm hatte sehr schnell begriffen, was das bedeutete, nur der Priester versuchte es noch zu verdrängen.
Sie konnten doch nicht weg sein …?
»Bleib du hier, ich bin gleich wieder da.« Er war ausgestiegen und zum nächsten Haus gegangen und dann zum nächsten und dem danach. Niemand hatte das Ehepaar abreisen sehen, niemand wusste, wohin sie gefahren waren. Der Trucker war mit seiner Frau verschwunden wie ein Dieb in der Nacht. Kein Hund hatte angeschlagen. Nur das mit den Hunden fanden
die Nachbarn auffällig, nicht die Tatsache, dass die Egrams weggezogen waren, ohne alten Freunden auch nur ein Wort zu sagen. Das konnten sie akzeptieren.
Hatte die Polizei einen Fehler gemacht, als sie die Eltern von jeder Schuld an dem Verschwinden und dem wahrscheinlichen Tod des kleinen Mädchens freisprachen? Flucht - das deutete auf ein schlechtes Gewissen hin, vielleicht hatte der Vater deshalb so bereitwillig die Einwilligungserklärung unterschrieben, denn mit einem entstellten Kind konnte keine Flucht gelingen.
Adrian Egram war ausgestiegen und sah mit großen Augen auf das leere Haus. Der Priester streckte die Hand aus, um den Jungen zu trösten, da verzog sich das verschwollene Gesicht zu einem Lächeln, und die Kinderstimme sagte: »Vergib mir, Vater, denn ich habe …« Er machte eine Pause, der schiefgezogene Mund stockte vor dem letzten Wort und brachte es dann mühsam heraus: »… gesündigt.«
Es war ein Satz aus der Liturgie, aber das Kind war nicht katholisch erzogen worden. Nur die Mutter war zum Glauben zurückgekehrt. Pater Paul Magritte sah zu dem Fenster im Obergeschoss hoch, wo das Schlafzimmer war, und stellte sich vor, wie Sarah Egram ihrem Kind diese Worte aus dem Beichtritual gelehrt hatte, während sie einen kleinen Koffer für seine Fahrt nach Chicago ins Krankenhaus packte. Er sah sie deutlich vor sich, hörte sie die Worte unablässig wiederholen, als der Priester, der unten im Wohnzimmer wartete und ahnungslos war.
Bis zu dem Tag, als er das Haus leer, das Kind verlassen vorgefunden hatte.
Adrian wiederholte die Worte wie ein Papagei eine mit Verspätung eingegangene Nachricht. »Vergib mir, Vater, denn …«
»Nein.« Der Priester hatte sanft einen Finger an die Lippen gelegt. »Davon will ich nichts mehr wissen.«
Viele Jahre waren vergangen. Das Haus war nicht mehr da, und auch das Stück der Straße, an dem es gestanden hatte, war verfallen, ehe Mrs. Egrams Botschaft ganz angekommen war.
Agentin Nahlman warf einen Blick in den Rückspiegel. Paul Magrittes Bewacher folgten ihnen zum Lagerplatz. Der Mann neben ihr war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Christine Nahlman dachte an das verpfuschte Verhör. Dale Berman hatte wie üblich ein großes Tamtam gemacht, das zu nichts führte. Dann hatte er den Gedanken einer Verbindung, die weit über eine Beziehung des Internet-Psychologen mit dem Killer hinausging, entschieden von sich gewiesen. Dass seine lückenhaften Recherchen die Lösung des Falles erschwert hatten, hätte er nie zugegeben. Er hatte - unglaublich, aber wahr - Paul Magritte sogar den Revolver zurückgegeben und von Christine Nahlman verlangt, dass sie sich bei Magritte entschuldigte. Das alles hatte sie kommen sehen.
Jetzt aber hatte sie Magritte für sich. Sie machte das Autoradio aus - eine diskrete Einladung an ihren Beifahrer, sein langes Schweigen zu brechen.
Der sagte zögernd: »Warum haben Sie nichts von dem Beutel mit den Knöchelchen gesagt?«
Darüber
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