Suche: Roman
mehreren Stunden geschlossen, die Temperatur fiel immer weiter und näherte sich achtundzwanzig Grad minus. In den zahlreichen Häusern und Wohnungen war es Zeit für die Fernsehnachrichten. Den Menschen wurden die Augen schwer, sie dösten in ihren Sesseln, eine Tasse Kaffee in der Hand. Doch einige Familien brachten ihre Kinder mit besorgtem Blick noch schnell vorher ins Bett, froh, dass es keine aktuellen Nachrichten von Spitzbergen gab.
Am Rand von Longyearbyen hatten die Suchmannschaften das Ende des abgesprochenen Gebiets, das überprüft werden sollte, erreicht. Diejenigen, die die alte Straße an der Kirche und der Telegraphenstation bis zur stillgelegten Seilbahnzentrale abgingen, waren die Letzten. Es war jetzt richtig dunkel geworden, und die Suchmannschaften hatten Taschenlampen benutzen müssen, um über die schneebedeckte Tundra sehen zu können. Am alten Friedhof, auf dem vereinzelt weiße, wettergegerbte Kreuze schief aus dem Schnee herausragten, meinten die Leute eine Spur im Schnee entdeckt zu haben, die von einem kleinen Kind herrühren konnte. Doch dann stellte sich heraus, dass sie von einem Rentier stammte.
Anne Lise Isaksen saß hinter dem Schreibtisch in ihrem Büro und hatte genügend Zeit, Zweifel aufkommen zu lassen. Hatte sie diesen Fall richtig behandelt? War es in Ordnung, dass die Regierungsbevollmächtigte hier saß? Oder hätte sie in anderer Form etwas beitragen können? Sie fühlte sich unsicher und ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Natürlich hatte sie ihre formalen Kompetenzen, auf die sie sich stützen konnte, ihre Erfahrungen sowohl aus dem Justizministerium als auch aus der praktischen Polizeiarbeit. Aber hier auf Spitzbergen lief nichts nach Plan ab. Nichts war typisch oder routinemäßig. Und als Regierungsbevollmächtigter stand man immer im Fokus. Er hatte schon recht gehabt, ihr verstorbener Vorgänger Berg, wenn er sich ab und zu in aller Vertraulichkeit über die Last all der Verantwortung beklagt hatte, die dieser Job mit sich brachte. Dass man nicht eine Runde durch den Ort drehen konnte, ohne den musternden Blicken aus vorbeifahrenden Autos zu begegnen, sich nie ins Café setzen konnte, ohne dass sich ein lastendes Schweigen ausbreitete. Auf jeden Fall konnte man es sich nie erlauben, ein Glas Bier allein in einer der Kneipen zu trinken, ohne am nächsten Tag mit Gerüchten hinsichtlich vermutlicher Depressionen oder einem beginnenden Alkoholproblem konfrontiert zu werden. Sie seufzte und schaute auf die halb geöffnete Tür zum dunklen Flur hin. Hätte sie lieber nicht angefangen, an den verstorbenen Regierungsbevollmächtigten Berg zu denken.
Mindestens einmal stündlich rief Anne Lise Isaksen bei Tone Olsen an. Ellas Mutter war nicht allein. Sie hatte Gesellschaft von der Kindergartenleiterin und zwei ihrer Kolleginnen. Trotzdem war sie es jedes Mal, die ans Telefon ging. Leider hatte die Regierungsbevollmächtigte nur herzlich wenig zu erzählen. Sie informierte die Mutter, dass die Suche im Gange war. Es ging nur langsam voran, weil die Mannschaften in der Nähe des Kindergartens besonders sorgfältig vorgingen. Andererseits konnten sie allein durch den Augenschein große Areale unberührten Schnees auf den offenen Geländen zwischen den Straßen ausschließen, ebenso wie lange Strecken mit festgetretenem Schnee neben den Wegen.
Ellas Mutter schwankte zwischen Enttäuschung, dass ihr Kind nicht gefunden worden war, und Erleichterung, dass die Regierungsbevollmächtigte ihr keine schlechten Nachrichten zu überbringen hatte. Beide Frauen gaben sich Mühe, die Gespräche mit Worten einzuleiten, die sie beide beruhigten – und die Wiederholung der Floskeln hatte in einer Situation, in der die nächste Nachricht schrecklich sein konnte, etwas Therapeutisches an sich, die Versicherung, dass alle nach besten Kräften arbeiteten, nur mit dem einen Ziel: Ella lebendig nach Hause zu bringen.
Doch das Gespräch gegen neun Uhr brachte eine Wende. Tone Olsen war endlich eingefallen, was sie im Kinderzimmer irritiert hatte. Ellas Kuscheltier, ein mit der Zeit ziemlich abgegriffener Bukowski-Teddy, den der Vater ihr früher geschenkt hatte, war nicht zu finden. Er lag normalerweise immer unter ihrer Bettdecke. Jeden Morgen erklärte Ella das Gleiche: »Der Teddy ist immer so müde, er hat keine Lust, heute mit in den Kindergarten zu gehen.« Die Mutter war sich ganz sicher, dass der Teddy auch an diesem Tag nicht in Ellas Rucksack mitgenommen worden war. Aber jetzt war er
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