Suche: Roman
Nachdem ich mit dem Leiter vom Roten Kreuz die Eisbärin und ihre Jungen aus der Stadt gejagt habe, bin ich noch mal zurückgekommen. Ich wollte eigentlich ins Bett. Doch dann hatte ich das Gefühl, dass ich irgendwas hier im Kindergarten übersehen habe. Und du? Warum bist du hier?«
»Aus dem gleichen Grund wie du. Es ist doch einfach nur schrecklich, sich vorzustellen, dass das Mädchen vielleicht irgendwo eingesperrt sein könnte.«
Der ältere Polizist nahm Knut die Schlüssel aus der Hand und schloss den Kindergarten wieder hinter sich zu. »Aber sag mal, wieso bist du so auf mich losgegangen? Hättest du nicht vorher fragen können ›Wer ist da?‹ oder etwas in der Art?«
Knut versuchte zu erklären. Von den unangenehmen, traumartigen Schatten aus der Kindheit zu berichten. Fast wie eine Art Angst vor der Dunkelheit. Aber dann auch wieder nicht. Etwas, das geschehen war, was er jedoch vergessen hatte. Tom Andreassen schüttelte den Kopf und ging Richtung Parkplatz. »Verdammte Scheiße, was für eine Kindheit hattest du denn?«, sagte er über die Schulter hinweg. »Angst vor einem Kindergarten zu haben …«
Aber Knut blieb wortlos neben seinem Schneescooter stehen und schaute auf das graue Haus mit all den bunten Zeichnungen in den Fenstern.
KAPITEL 9
WILDEREI
Freitag, 12. Januar, 14.30 Uhr
Das Blut und die Reste des gehäuteten Körpers befanden sich am Ende einer langen Ebene, vor einem Berghang. Über ihm stieg das Gebirge auf, scheinbar unwegsam. Es schien kein Mond, der Nachthimmel hielt die Landschaft in einem schwarzen Samthandschuh gefangen. Sie hatten ihre Schneescooter in einem Dreieck geparkt, mit der Schnauze nach innen, den Motor im Leerlauf weiterbrummen lassen. Im Licht der Scheinwerfer waren keine Sterne zu erkennen. Es schien also keinerlei Himmelslicht über dieser gesetzlosen Handlung.
Das Rentier hatte zu einer kleinen Gruppe mit zwei Böcken, einer Kuh und einem einjährigen Kalb gehört. Eigentlich hatten sie alle schießen wollen. Aber der erste Schuss hatte sich zu früh gelöst. Die Rentiere waren den Berghang hinaufgerannt, und dieser Bock hier war liegen geblieben. Nicht gerade der Größte, verhältnismäßig mager jetzt mitten im Winter. Nachdem das Fett weggeschnitten war, blieben noch knapp hundert Kilo übrig.
Die drei Männer enthäuteten ihn mit geübten Griffen und zerlegten das Fleisch in passende Stücke, die sie in Plastik wickelten. Sie kümmerten sich nicht um die Reste, die auf dem Schnee liegen blieben, denn sie wussten, dass es sich hier um eine nur wenig besuchte Gegend handelte. »Der Schneefuchs wird das schon regeln, noch ehe die Woche zu Ende geht«, murmelte einer von ihnen hinter dem Wollschal, der den unteren Teil seines Gesichts gegen die Kälte schützte. Die anderen beiden erwiderten auf solche Selbstverständlichkeiten gar nicht erst etwas. Das Wetter verlockte nicht gerade zum Smalltalk. Nachdem sie in Longyearbyen aufgebrochen waren, hatte der Wind an Stärke zugenommen. Es war zwar kein richtiger Sturm, aber er fuhr wie eine Messerklinge über die nackte Gesichtshaut.
Die drei Männer packten schnell das Fleisch auf den Schlitten hinter einem der Schneescooter. Die anderen beiden blieben leer, bis auf die Benzinkanister und ein paar Kisten, auf denen »Notausrüstung« stand. Sie rechneten damit, noch weitere Rentiere im Gebirge zu finden, auf der anderen Seite. Und wenn nicht, war das auch nicht so schlimm. Das Fleisch war nur eine Art Zubrot. Es war der Inhalt der Kisten, der für das Einkommen sorgte.
Zu einer anderen Jahreszeit wären die Reste des Rentiers und die Spuren der Wilderei noch lange sichtbar gewesen. Aber jetzt mitten im Januar herrschte immer noch schwarze Polarnacht, die mehrere Monate lang dauerte. Man hätte schon direkt über den Kadaver fahren müssen, um ihn zu entdecken. Und außerdem kam hier sowieso niemand vorbei. Die Schneescooterloipe über die Insel hin zu den beliebtesten Ausflugsorten verlief weiter südlich.
Das Schneescooterdreieck löste sich auf, und kurz darauf zog eine Lichterkette am Rand des steilen Abhangs entlang. Wäre da nicht der Motorenlärm gewesen, hätte es verträumt und malerisch aussehen können. Nur die armseligen Reste des Rentiers blieben zurück, ohne verraten zu können, wer da wilderte.
»Jetzt müsst ihr endlich etwas tun!« Die Tür zu Kjell Lodes Büro am Ende des Flurs vor dem Konferenzraum wurde aufgerissen, und ein allseits bekannter Rentierforscher vom Norwegische
Weitere Kostenlose Bücher