suchen Gespenster
nicht mehr täglich zur Arbeit mussten und ihre kleinen Gärten liebevoll pflegten.
Zweimal am Tag fuhr ein Omnibus vorbei und hielt am Dorfausgang, falls einer zum Einkaufen oder zum Arzt in die Stadt fahren wollte. Es gab auch ein paar Telefone, doch die gehörten in die Häuser, die während der Woche verschlossen blieben, ebenso ein paar Autos, die am Wochenende heranbrausten.
Zwischen der Siedlung und der Stadt lagen Wiesen und ein kleiner Wald. Dort, wo sie zusammenstießen, befand sich eine Schlucht, seit alten Zeiten der Schindanger genannt. Dort sollte es nicht geheuer sein, behaupteten manche Leute. Um Mitternacht ritte ein Reiter ohne Kopf durch die Schlucht. Das war natürlich nur eine Sage – wer glaubt heute noch an so etwas? Trotzdem wäre niemand gern in später Nacht dort entlanggegangen.
Nur die alte Frau Ziegler, die erklärte oft: „Ich täte es! Was die Menschen nur immer haben! Es geht doch alles natürlich zu und Gespenster gibt es nicht.“ Die alte Zieglerin – so nannten sie ihre Nachbarn – half überall, wo es Not tat. Sie machte auch für viele Besorgungen in der Stadt, und wenn irgendetwas Besonderes los war, wurde sie geholt.
So hatte einmal der Rentner Heinrich ein Enkelkind zu Besuch, Brigitte, ein liebes kleines Mädchen von knapp vier Jahren. Aber sie war auch ein wildes Ding. Sie kletterte am liebsten in den Bäumen herum. Und dabei fiel sie eines Abends von einer hohen Kastanie herunter.
Was für ein Schreck! Ihre Großmutter schleppte sie mühsam ins Haus, brachte sie ins Bett und machte ihr kühlende Umschläge. „Wenn bloß der Großvater da wäre!“, jammerte sie. „Ich weiß mir ja gar nicht zu helfen.“ Der Großvater war mit dem Rad zu einem Freund gefahren, der ihm seine neuen Rosenstöcke zeigen wollte, und da blieb er gewöhnlich noch zu einem tüchtigen Schwatz hocken.
Die alte Zieglerin hatte von dem Unglück gehört und ging zur Großmutter Heinrich hinüber. Die weinte und sagte immer wieder: „Wenn doch bloß mein Mann da wäre! Unser Brigittchen hat Fieber und ich möchte gern den Doktor holen. Aber wer geht jetzt noch in die Stadt? Es ist ja stockrabenschwarze Nacht.“
„Red nicht so viel“, rief die alte Zieglerin. „Ich tu‘s. Ich will mir bloß mein Kopftuch holen.“
Draußen war es wirklich stockdunkel. Die Zieglerin konnte gar nicht so schnell gehen, wie sie wollte. Doch dann gelangte sie zu den hohen Pappeln und ehe sie es sich versah, befand sie sich am Schindanger und im Wald.
In der Stadt ging sie zur ersten Telefonzelle, die sie sah, suchte bei dem matten Licht die Nummer von Doktor Zenner und rief bei ihm an. Vielleicht kann ich mit ihm zurückfahren, sagte sie sich, dann bin ich noch vor Mitternacht zu Hause.
Aber der Doktor war unterwegs. Seine Frau versprach, ihn sofort zur Siedlung hinauszuschicken, wenn er heimkäme, und die alte Zieglerin machte sich auf den Rückweg. In der Stadt war es still wie in der Kirche, ihre Schritte hallten die ganze Straße entlang. Mittlerweile ging der Mond auf und sie konnte von Weitem schon die hohen Pappeln hinter dem Schindanger erkennen. Ob sie nicht lieber die Landstraße nehmen sollte? Vielleicht holte der Arzt sie dann sogar ein und sie konnte in sein Auto steigen? Aber sie sagte sich: Dann dächte ja wohl jeder, ich hätte mich gefürchtet! Und sie marschierte auf den Schindanger zu.
Als sie fast dort war, hörte sie von der Stadt her eine Kirchturmuhr schlagen: zwölf Mal! Der alten Zieglerin wurde plötzlich seltsam zumute. Jeder Schlag traf auf ihr Herz wie der Hammer des Schmiedes den Amboss. Und gerade als der letzte Schlag verklungen war, setzte plötzlich ein solcher Sturm ein, dass es in den Bäumen gewaltig rauschte. Und dann – alle guten Geister! –, dann kam er an – der Reiter ohne Kopf! Nein, kein Reiter – ein Radfahrer, aber einen Kopf hatte er wirklich nicht. Mitten im Schindanger hielt er an, als ob er lauschte.
Rutsch, war die alte Zieglerin im Graben und duckte sich wie ein Häufchen Unglück. Wenn sie später davon erzählte, sagte sie immer: „Meine Haare standen zu Berge, meine Knochen zitterten und mein Herz pumperte!“
Als der Radfahrer endlich an ihr vorbei war, schielte sie aus dem Graben heraus und sah ihm nach: Der hatte wahrhaftig keinen Kopf!
Dann rappelte sie sich auf und rannte nach Hause. Als sie bei Heinrichs ankam, setzte sie sich auf den nächsten Stuhl und rief: „Ich bin mehr tot als lebendig!“
„Ja, was rennst du denn so?“,
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